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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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gefolgt, an denen Lokesh zuvor die Anwesenheit eines Geistes verspürt hatte, nur um dann dazusitzen und einen Felsen anzustarren, der dem Geschöpf laut Lokeshs beharrlicher Beteuerung als Unterschlupf diente.
    Lokesh rieb sich das bärtige Kinn, sah Shan dann mit verlegenem Grinsen an und ging weiter. Shan folgte ihm schweigend. Er wußte, daß sie nach Vollendung der ersten Runde sogleich ein weiteres Mal den Hang erklimmen würden.
    Eine Stunde später, nachdem sie ins Lager zurückgekehrt waren und eine Mahlzeit aus kalten tsampa-Klößen zu sich genommen hatten, befanden sie sich dicht unterhalb der Kammlinie und hielten an einem flachen Felsen, von dem aus sich die langgestreckte Ebene überblicken ließ. Winslow, der es abgelehnt hatte, am Bach zurückzubleiben und auszuruhen, deutete auf zwei kleine Staubwolken am südlichen und westlichen Ende. »Unsere Kundschafter«, sagte der Amerikaner.
    »Der Tara-Tempel, die Maitreya-Kapelle, der Samvara- Tempel«, erklärte Lokesh plötzlich, und Shan sah, daß er auf leere Stellen des Ruinenfelds wies und von Dingen sprach, die er einst im gompa gesehen hatte oder gar immer noch sah. »Die chora« , sagte er und meinte damit den Hof für Debatten. »Der innere Kräutergarten, der nördliche Garten, die nördliche kangtsang und die barkhang« -, fügte er versonnen hinzu und meinte ein Besuchergebäude und die Pflanzenpresse.
    Lokeshs Hand schwebte mitten in der Luft, als habe er etwas vergessen. »All die Gebetsfahnen in den Bäumen«, sagte er mit entrückter Stimme. »Es ist wie an einem Festtag.«
    Shan schaute wieder hinab zu den Ruinen. Dort gab es keine Gebetsfahnen, abgesehen von ein paar bescheidenen Wimpeln an einer Leine bei Gangs Schreinen, und keine Bäume außer dem kleinen Wacholderhain jenseits des Klostergeländes. Lokesh befand sich in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort. Shan fühlte sich durch seinen Freund nie in Verlegenheit gebracht und machte sich auch keine Sorgen um dessen geistige Gesundheit, aber plötzlich empfand er so etwas wie Neid.
    Er steckte die Hände in die Manteltaschen. Seine Finger berührten etwas. Er zog den Zweig hervor, den er vom Ort des Brandes mitgenommen hatte, und streckte ihn Lokesh hin. Der alte Tibeter nahm ihn und roch daran. Dann sah er Shan überrascht an und bedankte sich lächelnd.
    Shan beobachtete, wie sein Freund den Zweig mit beiden Händen umfing und mit geschlossenen Augen dicht vor die Nase hielt. »Ist das eine Arznei?« fragte er.
    Lokesh nickte, ohne die Augen zu öffnen. »Noch nicht ganz reif, aber von einer gesunden Pflanze. Chigu und ich haben sie manchmal draußen auf der Ebene gesammelt. Sie heißt >Vogelfuß<, weil der Stengel sich auf ähnliche Weise verzweigt.«
    Shan dachte an den Ort zurück, an dem er und der Amerikaner diese Pflanzenart entdeckt hatten. Sie war nur im Schutz der flachen Mulde gewachsen. Vielleicht hatte der dobdob gar nicht die ganze Ebene anzünden, sondern lediglich diese Heilpflanzen verbrennen wollen. Aber warum? Shan erinnerte sich an das Salzlager, wo die Hirten eine verletzte Frau vor den Heilem versteckt hatten. Und an die Frau auf der Hügelkuppe, die es abgelehnt hatte, sich von Lokesh behandeln zu lassen.
    Sie erklommen den Berggrat und sahen eine wogende Wiese vor sich, die mehrere hundert Meter breit war und sich mindestens drei Kilometer nach Osten und Westen erstreckte. Dahinter, nun nur noch wenige Kilometer entfernt, erhob sich drohend der gewaltige Berg Yapchi, der im Süden die Ebene der Blumen und im Norden das gleichnamige Tal überragte.
    Shan und Winslow wollten sich von Lokesh durch das Gewirr aus Wildpfaden führen lassen, die kreuz und quer über die Wiese verliefen, doch der alte Tibeter hielt achselzuckend inne und bedeutete Shan, er solle auch weiterhin vorangehen. Dergleichen war während ihrer Reisen schon häufig passiert. Es sei egal, wer die Führung übernehme, behauptete Lokesh, denn sie würden stets finden, was zu finden ihnen vorherbestimmt sei, und am Ende dort ankommen, wo sie ankommen sollten.
    Auf dem Weg über die Wiese verspürte Shan eine unverhoffte Heiterkeit. Der Wind wehte gleichbleibend und kühl, war aber nicht unangenehm. Dicht am Boden wuchsen kleine rosafarbene Blumen. Irgendwo vor ihnen sang eine Lerche.
    Sie ließen sich Zeit. Shan bog gelegentlich auf eine neue Abzweigung ein, und so gelangten sie schließlich an einen niedrigen langen Felsvorsprung am Rand einer großen Wiese, die im Norden von einer hohen

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