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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Land bringen.«
    Er sah Lokesh an. »Was hat sie damit gemeint?«
    Lokesh benötigte für seine Antwort keinerlei Bedenkzeit. »Ein boyal. Sie hat ein boyal gemeint. Das bedeutet verborgenes Land. Manche Leute glauben, daß es versteckte Pforten zu besonderen Ländern gibt, beispielsweise zum Himmel, wo die Götter frei umherstreifen.«
    Er sah Shan an. Manche Leute. Wie die Bon-Anhänger, die in Yapchi lebten. Lokesh seufzte, stand auf und ging langsam zu einem niedrigen Steinhaufen vor ihm. Shan erwartete, daß er einen Stein hinzufügen würde, doch statt dessen trug Lokesh den Haufen ab, bis er ein Quadrat aus festem Granit freigelegt hatte, das etwas mehr als einen halben Meter Seitenlänge besaß. »Es gab hier einen kleinen chorten« , sagte er mit eifriger, ehrfürchtiger Stimme, als habe er sich eben erst daran erinnert. »Ein Schrein mit einem Relikt darunter, dem Fußknochen eines alten Einsiedlers, der vor mehr als fünfhundert Jahren ganz Tibet bereist und Kräuter gesammelt hat.«
    Er starrte die quadratische Steinplatte und den Flechtenbewuchs am Rand an, der sie fest mit dem Boden verband. »Die Tibeter, die dies getan haben«, sagte er aufgeregt und meinte damit jene, die man gezwungen hatte, das gompa zu zerstören, »haben diesen Sockel und das Relikt nicht angerührt.«
    Seine Augen funkelten hoffnungsvoll. »Wir haben hier manchmal beim Unterricht gesessen, und die Lamas erklärten dann immer, daß diese Quelle mit dem Mittelpunkt der Erde verbunden sei. Sie wuschen ihre Kräuter in dem Wasser und verschickten sie dann in Tontöpfen an Heiler in ganz Tibet. Ich weiß noch, wie ich stundenlang zugehört habe, als Chigu Rinpoche uns erzählte, daß die Kraft der Pflanzen aus der Kraft der Erde entspringt und ihre Heilwirkung darauf beruht, daß sie die Menschen wieder mit der Erde verbinden.«
    Winslow kniete sich ehrerbietig und mit staunendem Blick neben Lokesh. »Ich habe irgendwo gelesen, daß manche Ärzte sagen, sie könnten jede Krankheit heilen, wenn sie nur wüßten, wie der Mensch sich entwickelt hat und wo er ursprünglich dem Schlamm entstiegen ist. Denn alles, woraus wir bestehen, stammt aus der Erde.«
    Als er den Kopf hob und Shan ansah, wirkte sein Blick seltsam inbrünstig. »Das heißt doch eigentlich dasselbe, nur mit anderen Worten, nicht wahr?«
    Der Amerikaner streckte die Fingerspitzen nach dem Flechtenbewuchs des Felsens aus, berührte ihn aber nicht, als sei dies ein zu heiliger Gegenstand. Dann wirkte er plötzlich verlegen und half Lokesh, die Steine wieder aufzuschichten, diesmal jedoch nicht als Haufen, sondern in Form eines quadratischen Sockels, wie bei einem chorten.
    Nach der ersten Schicht hielt Lokesh inne, pflückte ein Exemplar der Pflanzenart, die rund um die Steinplatte wuchs, und nahm es verwundert in Augenschein. »Chigu Rinpoche hat gesagt, die einzige Aufgabe eines Heilers bestehe darin, die Kraft der Erde in die Lebenskraft des Menschen zu übersetzen.«
    Winslow sah ihn lange an, nahm dann zögernd einen Stein und fuhr fort, den Sockel zu errichten, während Shan anfing, zusätzliche Steine vom Hang herbeizuschaffen.
    Lokesh hielt erneut inne. »Hier an dieser Quelle haben wir gelernt, wie man Wurzeln auf respektvolle Art und Weise ausgräbt, indem man immer nur ein wenig Erde beiseite schiebt, ihr dabei geduldig zuredet und stets einen Rest übrigläßt, damit die Pflanze nachwachsen kann. Chigu Rinpoche hat gesagt, wir würden beim Graben im Boden viel über uns selbst erfahren. Er sagte, wir sollten in der Erde graben, um die Erde in uns selbst zu entdecken.«
    Lokesh hob ein paar Krumen empor und ließ sie von einer Hand in die andere rieseln. »So lautete eines seiner Lehrmantras. >In die Erde für die Erde im Innern.c«
    Als sie fertig waren, stieß der alte Tibeter Shan an und wies auf den Berggrat über den Ruinen. »Da oben ist jemand.«
    Shan betrachtete den Hang und sah nichts außer einem großen schwarzen Vogel, der hoch über ihnen im Aufwind seine Kreise drehte. Winslow hob den Kopf und suchte die Kammlinie dann mit dem Fernglas ab.
    »Kannst du sie sehen?« fragte Shan langsam und bedächtig. Die Sinne und Empfindungen seines alten Freundes befanden sich zumeist in einem empfindlichen Gleichgewicht. Er hatte vielleicht nur eine Erinnerung an Leute auf dem Berg wahrgenommen, obwohl das dazugehörige Ereignis schon Jahrzehnte zurücklag, oder den Rücken einer fliehenden Antilope gesehen. Schon häufig war Shan seinem alten Freund an Orte

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