Das tibetische Orakel
Granitwand geschützt wurde. Die Senke besaß einen Durchmesser von ungefähr zweihundertfünfzig Metern, war mit einer niedrigen Pflanze bewachsen, die an Heidekraut erinnerte, und voller Lerchen, die überall umherflatterten - mehr Lerchen, als er jemals an einem Ort versammelt gesehen hatte. Als Shan seine Freunde durch eine Lücke zwischen den Felsen führte, hörte er hastig wispernde Stimmen, und dann kam auch schon eine Hand aus dem Schatten und packte ihn am Arm.
Schaudernd schreckte er zurück und mußte sofort an den dobdob denken.
»Duckt euch«, flüsterte eine Frau.
Shan bückte sich und sah fünf Tibeter - drei Hirten mittleren Alters, eine etwas jüngere Frau und einen Jungen - im Schutz eines Felsüberhangs sitzen. »Falls sie euch entdecken, ergreifen sie die Flucht«, sagte die Frau. Sie schien nicht überrascht zu sein, drei Fremde zu sehen, nur besorgt, man könnte die Objekte ihrer Begierde verscheuchen. Wilde drongs , vermutete Shan, oder vielleicht ein paar der seltenen blauen Schafe, die das Gebirge durchstreiften.
Die Tibeter trugen die dicken chubas der dropkas , mehrfach mit Leder und rotem Stoff geflickt. Zwei der Männer hatten dreckige Fellkappen auf, der andere die wattierte grüne Mütze mit Ohrenklappen, die zur Winterausstattung der Armee gehörte. Die Frau hielt mit einer Hand ein großes gau aus Silber und Türkisen umklammert, mit der anderen den Arm des Jungen, der aus großen neugierigen Augen die Wiese betrachtete.
Nicht einmal der Anblick des schlaksigen Amerikaners lenkte die dropkas lange ab. Die Männer sahen Winslow für ein paar Sekunden fragend an, und der Junge zog an der Schulter der Frau, um sicherzugehen, daß auch sie den goserpa bemerkte. Doch als Lokesh und Winslow sich neben die Leute setzten, als seien auch sie hergekommen, um das Geschöpf zu sehen, auf das die dropkas warteten, richtete die Aufmerksamkeit des Jungen sich wieder auf die Wiese.
Shan nahm neben Winslow im Schatten Platz und beugte sich vor, um etwas zu sagen, doch niemand erwiderte seinen Blick oder schien ihn auch nur zu registrieren. Da lag mehr als nur Erwartung in den Augen dieser Menschen, erkannte Shan. Es war eine tiefe, sogar spirituelle Erregung. Und so saßen sie dort, während der Wind um die Felsen rauschte, die Lerchen riefen und strahlendweiße Wolken über den kobaltblauen Himmel jagten. Zwei der Männer stimmten leise Mantras an und ließen ihre Gebetsketten durch die Finger gleiten. Plötzlich deutete der Junge auf die andere Seite der Wiese, dicht vor der Wand.
Shan sah nichts, doch die dropkas stießen gedämpfte Freudenschreie aus. Die beiden Männer erhöhten die Geschwindigkeit des Mantras, und Lokesh schloß sich ihnen an. Dann fiel auch Shan eine Bewegung am Rand des Schattens der Felswand auf, eine massige Gestalt auf vier Beinen. Aus dieser Entfernung konnte er nicht sagen, ob es sich um einen Yak, ein großes Schaf oder gar um einen Bären handelte. Dann trat eine zweite Gestalt, diesmal eindeutig ein Mensch, aus dem Schatten, und das erste Wesen richtete sich auf den Hinterbeinen auf. Das Gesicht des Mannes war nicht zu erkennen, aber er machte nur kleine Schritte und stützte sich auf einen langen Stab. Shan spürte, daß dieser Fremde nicht nur betagt, sondern uralt sein mußte.
Lokesh sagte nicht länger das Mantra auf. Sein Gesicht wirkte so aufgeregt wie das des Jungen. Tränen rannen ihm über die Wangen. »Ich erkenne diesen Ort jetzt wieder«, flüsterte er. »Wir sind im Sommer hergekommen. Haben ein weißes Zelt aufgestellt und sind mehrere Tage geblieben, manchmal eine ganze Woche. Chigu Rinpoche hat gesagt, die Lerchen würden hier den Kräutern etwas vorsingen.«
Den Kräutern etwas vorsingen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Shan Vögel vor sich, die Wiegenlieder für junge Pflanzen anstimmten.
»Es ist wahr«, sagte ein Kind. Doch als Shan den Kopf wandte, sah er, daß es die Frau war, die mit der Stimme eines kleinen Mädchens sprach. »Es ist alles wahr, oder?« fragte sie Lokesh. Eine Träne lief über ihr Gesicht. »Vergiß es nicht«, sagte sie in feierlichem Tonfall zu dem Jungen und umarmte ihn. »Denk daran, was wir gehört haben: Dies ist einer der Orte, der früher von ihnen aufgesucht wurde, und heute hast du einen von ihnen kommen gesehen.«
Es kam vor, so hatte Shans Vater einst zu ihm gesagt, daß Leute achtzig oder neunzig Jahre alt wurden und nur ganz kurz, ein- oder höchstens zweimal, einen Blick auf die Wahrheit des
Weitere Kostenlose Bücher