Das tibetische Orakel
Angehöriger eines politisch Unerwünschten nicht sofort getötet wurde, hatte häufig eine unfreiwillige Reise nach Osten antreten und eine spezielle Schule zur politischen Umerziehung besuchen müssen, um sich später in das chinesische Proletariat eingliedern zu können.
»Wir haben ihn nie wieder zu Gesicht bekommen.«
»Es heißt, danach sei Gang durchgedreht«, setzte Lhandro die Geschichte fort. »Angeblich hat er Hinterhalte gelegt und Rotgardisten ermordet. Niemand wußte es mit Sicherheit. Aber die Roten Garden hüteten sich davor, gewisse Orte in den Bergen zu betreten, und zogen langsam aus der Gegend ab. Die Schwester seiner Frau kehrte zurück«, sagte er mit einem bekümmerten Seitenblick auf die Angesprochene, »und wurde dem Kollektiv zugewiesen, das den früheren Familienbesitz verwaltete. Nach ein paar Jahren kam Gang aus den Bergen herunter und arbeitete dort. Am Ende haben die beiden geheiratet. Als das Kollektiv aufgelöst wurde, kamen sie her. Sie wollten allein sein, und außerdem fühlte Gang sich noch immer den Heilern verpflichtet, die einst hier gelebt hatten.«
Lhandro sah Shan entschuldigend an. »Ich habe gar nicht mehr an Gangs Problem mit den Chinesen gedacht. Wir hatten.«
Seine Stimme erstarb.
Nyma beendete den Satz für ihn. »Wir hatten in Yapchi noch nie einen chinesischen Freund.«
Am nächsten Morgen war Padme munter und redselig und hungrig genug, um zwei Schalen tsampa zu essen.
»Ihr habt mir das Leben gerettet«, sagte der verletzte Mönch mehrmals zu Shan und Lhandro. Er saß am Feuer, hatte sich zum Schutz vor dem eiskalten Morgenwind eine Decke um die Schultern gelegt, musterte bisweilen eindringlich die instand gesetzten Schreine, machte sich Notizen auf einem kleinen Schreibblock aus seiner Gürteltasche und starrte gelegentlich zu den Schafen herüber, die am Bach grasten. »Aber ich begreife nicht, wieso ihr eure Herde hergebracht habt.«
Er betrachtete Winslow, der am Ufer entlangging.
»Wir waren unterwegs nach Norden«, sagte Lhandro. »Du konntest nicht allein weiter, also haben wir hier Wasser und Schutz gesucht.«
»Dieses Mädchen, das mit euch reist, hat gesagt, die Schafe würden Beutel mit Salz tragen.«
Padme ließ bei diesen Worten den Amerikaner nicht aus den Augen.
Lhandro nickte. »Vom Lamtso.«
Der junge Mönch sah ihm forschend ins Gesicht. »Das ist eine sehr alte Angelegenheit«, lautete sein seltsamer, zögernder Kommentar. Es klang fast, als würde er Lhandro tadeln. »Es könnte verunreinigt sein, wenn man es einfach so aus dem Boden holt.«
Lhandro sah den Mönch verwirrt an und fragte sich, so wußte Shan, ob die Bauern aus Yapchi während all der Jahre ohne Mönche womöglich irgend etwas Wichtiges vergessen hätten. »Es ist gutes Salz«, sagte der rongpa. Der Mönch zuckte die Achseln und nahm aus der Hand von Gangs Frau eine weitere Schale Tee entgegen.
»Aber es gibt Vorschriften. Die Regierung hat ein Salzmonopol«, wandte Padme vorsichtig ein. »Ich würde nur ungern sehen, daß man euch anklagt, weil ihr.«
Er hielt inne, zuckte abermals die Achseln und beendete den Satz nicht. »Ohne diese Karawane hätte ich wahrscheinlich noch stundenlang dort gelegen.«
Er drehte den Kopf und sah Shan an.
»Warum?« fragte Shan. »Warum warst du auf der Hochebene? Wolltest du dich mit jemandem treffen?«
Padme erklärte, er und eine Gruppe Mönche aus Norbu würden mitunter die Region rund um ihr gompa durchstreifen und nach religiösen Artefakten Ausschau halten. Diese entlegene Ebene hätten sie zum erstenmal aufgesucht, und bei ihrer Ankunft sei ihnen klargeworden, daß sie sich aufteilen mußten, um alles zu erforschen. Er selbst habe das andere Ende des Plateaus angesteuert und soeben einen kleinen Steinhaufen entdeckt, als der Riese mit dem Stab über ihn hergefallen sei.
»Wissen Sie, wer das hier zurückgelassen hat?« unterbrach ihn eine tiefe Stimme auf Mandarin. Winslow stand vor ihnen und hielt die gelbe Weste, die sie in der Senke gefunden hatten. »Haben Sie eine Amerikanerin gesehen?«
»Nein«, erwiderte Padme langsam. »Es lag einfach da. Neben dem kleinen Steinhaufen.«
Der Amerikaner seufzte und reichte die Weste dem Mönch. »Nehmen Sie sie. So hat wenigstens jemand einen Nutzen davon.«
Padme streckte zögernd den Arm aus, streifte die Decke ab und zog sich die Weste über. »Hat dieser Fremde auch Salz gesammelt?« fragte er Lhandro auf tibetisch.
»Ich bin bloß hier, um die frische Luft zu
Weitere Kostenlose Bücher