Das Tibetprojekt
stellte sich weiterhin dumm und schüttelte den Kopf.
»Wie Sie sicher ebenfalls wissen, haben ausnahmslos alle tibetischen Orden immer nur gelbe oder rote Mützen getragen. Wir
wissen nun auch nicht genau, ob Weißmützen sich in Lhasa aufhielten. Das bleibt wohl für immer ein Geheimnis. Aber da wir
den Weg schon bis zum Manichäismus zurückverfolgt haben, ist uns bekannt, dass dessen Anhänger weiße Mützen trugen. Es gibt
Höhlengemälde im alten Iran, auf dem das zu sehen ist. Was nun Tibet angeht, so haben die Manichäer sich dort an den nördlichen
Grenzen niedergelassen. Wir haben ebenfalls Wandmalereien in Guge gefunden, die heilige Tibeter mit weißen Mützen zeigen.
Und wir können annehmen, dass eifrige Missionare auch bis tief ins Innere von Tibet vorgedrungen sind. Den Rest überlasse
ich Ihrer Fantasie.«
»Da diese Religion untergegangen ist, und die Stellvertreter Christi sich von ihr distanzieren, verfügt auch der Vatikan über
keinerlei Unterlagen«, sagte der Kardinal trocken.
|323| Li Mai überlegte. »Na schön, vielleicht werden diese Vorgänge auf dem Dach der Welt für immer unbekannt bleiben. Andererseits
könnte ich mir vorstellen, dass es noch viel mehr christliche Aktivitäten dort gab. In dieser Zeit hätten viele Menschen in
Tibet sein können, ohne jemals irgendwo erwähnt zu werden. Aber wir wissen, dass es im 12. Jahrhundert die Legende vom mächtigen Priesterkönig ›Johannes‹ gab, die ungezählte Seelen nach Asien lockte. Von den meisten
hat man nie wieder gehört.«
»Tja leider.« Der Kardinal schien jetzt erleichtert.
Sie wissen es nicht.
Aber jetzt zog Li Mai ihr Ass aus dem Ärmel. »Glücklicherweise gibt es aber einige Ausnahmen.«
Der Kardinal riss die Augen auf.
Bitte nicht.
»Es gibt Aufzeichnungen aus der Zeit, um die es uns geht. Es sind Reiseberichte von christlichen Wandermönchen. Unbekannte
Reisende. Die Dokumente sind nicht vollständig und nicht genau zuzuordnen. Aber es gibt sie.«
Um Himmels willen.
Der Kardinal geriet wieder in Aufruhr.
Li Mai hob die Augenbrauen. »In diesen Schriften äußern die katholischen Mönche ihr Entsetzen darüber, dass christliche Messen
abgehalten werden. Mitten in Tibet. Sie schreiben außerdem, dass die Lamas christliche Choräle singen. Und zwar wie die Teufel ...«
»Hören Sie auf!«, schrie der Kardinal. Das Blut schoss ihm in den Kopf, und er war außer sich. Decker und Li Mai sahen sich
an. Wir haben ihn!
»Wieso auf einmal das Entsetzen, Euer Eminenz? Freut die Bekehrung Sie nicht?«, fragte Li Mai.
Der Kardinal stöhnte: »Das war keine Bekehrung, das war eine Entweihung!«
|324| »Sprechen Sie weiter!«, verlangte Li Mai.
Der Kardinal sackte in sich zusammen. Mit schwerem Atem sagte er: »Irgendwer, ein Manichäer oder sonst irgendein übereifriger,
auf eigene Faust handelnder Missionar hat anscheinend unseren Glauben abseits von allen Wegen und Städten in die völlig unzugängliche
und verborgene Gebirgslandschaft Tibets gebracht. Und dort wurde die Lehre Jesu von Barbaren und Ketzern schrecklich entstellt.«
Er lockerte sich den Kragen und bemühte sich um Haltung. »So, nun kennen Sie die Wahrheit. Ich habe Ihnen gesagt, was ich
weiß. Und nun verraten Sie mir bitte, warum es Sie so interessiert.«
»Ich denke, Sie wissen es. Und es geht um mehr als ein paar misslungene Gottesdienste. Es geht um jemanden, der zwischen 1357
und 1419 in Tibet gelebt und Geschichte geschrieben hat. Er hat mitten in den inneren Unruhen und Religionskriegen, mitten
in einer Zeit der Exzesse und Verfehlungen einen neuen Orden gegründet.«
»Wer soll das gewesen sein?«
»Ich rede von Tsongkapa und seinem Orden der Reformierten, den späteren Dalai Lamas.«
»Was ist daran so Besonderes?« Der Kardinal wurde zunehmend nervöser.
»Ich frage mich, ob er vielleicht von außen beeinflusst wurde.«
»Das ist doch lächerlich. Wir wussten ja kaum, dass es Dalai Lamas überhaupt gibt«, sagte der Kardinal und bereute seinen
Ausrutscher sofort.
Li Mai sah, dass er wieder ausweichen wollte. Sie machte es kurz: »Das Zölibat!«
»Wie bitte?« Das erwischte ihn auf dem linken Fuß.
»Sie haben richtig gehört, das Zölibat. Niemals hätte in |325| einem wilden Land wie Tibet jemand von sich aus die absurde Idee gehabt, für Mönche das Zölibat einzuführen. Ich denke, eine
solche Innovation kam nicht von Tsongkapa alleine. Sie kam von außen.« Li Mai wartete einen Moment
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