Das Tibetprojekt
Arbeit hinter
sich und endlose Gespräche mit Peking und der chinesischen Botschaft in Rom. Die diplomatischen Verbindungen waren heiß gelaufen,
und es war ebenso viel Verhandlungsgeschick wie Geschäftssinn nötig, bis der apostolische Stuhl zu einem Entgegenkommen bereit
war. Decker konnte es sich nur ansatzweise vorstellen, was hinter den Kulissen gelaufen sein musste, um das hinzubekommen.
Sie hatten eine Live-Schaltung in den Vatikan. Vielleicht war es ja auch ihr Glück, dass der jetzige Papst ein Deutscher war.
Die Beziehungen des Vatikans zu Hitler waren ein heikles Thema und möglicherweise hatte der Heilige Vater sein Einverständnis
auch deshalb gegeben.
Ihr Gesprächspartner war Kardinal Giallo, der für die auswärtigen Beziehungen des Vatikans zuständig war und der besondere
Kenntnisse in der langen, nicht immer offiziellen Geschichte der katholischen Kirche besaß. Li Mai hielt Deckers Anliegen
zunächst zwar für bloße Spekulation, aber sie mussten einfach alles versuchen, um an weitere Informationen über den Tempel
des Schreckens zu kommen. Die Zeit lief bald ab, und es war vielleicht ihre letzte Chance, weiterzukommen. Und jetzt schien
ihr Deckers Idee gar nicht mehr so abwegig.
|315| Zu der Überzeugung war sie gelangt, nachdem sie und ihr Mitarbeiterstab neue Unterlagen aus den verfügbaren chinesischen Archiven
hervorgeholt und analysiert hatten. Die Ergebnisse lagen vor ihr, und sie war äußerst gespannt, wie der Kardinal reagieren
würde, wenn sie ihn damit konfrontierte. Es würde sicher kein einfaches Gespräch werden, und sie überlegte sich ihr Vorgehen
genau.
»Du solltest dich vielleicht erst später einschalten«, sagte sie zu Decker, »ich kann mir vorstellen, dass der gute Mann ein
Gespräch ablehnt, wenn er dich sieht. Immerhin ist dein Ruf als Kritiker von religiösen Institutionen ziemlich verbreitet.«
Decker lachte. »Da könntest du recht haben.«
Li Mai nahm wieder vor dem großen Plasmaschirm in der Sitzecke Platz, und Decker saß etwas abseits, außerhalb des Kamerabereichs.
Aber er sah den Bildschirm gut. Sie mussten nicht lange warten, dann erschien der Kardinal auf dem Monitor. Sein Gesicht war
angespannt.
»Pronto«, sagte er missmutig.
»Euer Eminenz«, begann Li Mai mit diplomatisch geschulter Höflichkeit, »zunächst einmal vielen Dank im Namen der chinesischen
Regierung, dass Sie sich für uns Zeit genommen haben. Mein Land weiß das zu würdigen und steht tief in Ihrer Schuld.«
»Schon gut, schon gut«, wiegelte der Kardinal mit einer ungeduldigen Handbewegung ab. »Es ist mir ein Rätsel, wie Sie den
Heiligen Vater dazu gebracht haben, diesem Gespräch zuzustimmen, und noch dazu in so kurzer Zeit.«
Das frage ich mich allerdings auch, dachte Decker.
»Aber bitte«, fuhr der Kardinal fort, »man hat mir gesagt |316| , dass Sie sich für die gemeinsame Geschichte unserer beider Länder interessieren.«
Li Mai blickte in die Kamera und sagte: »Wir haben nur ein paar Fragen über Dinge, die weit in der Vergangenheit liegen. Nichts
Besonderes.«
»Was wollen Sie wissen?«
Decker beobachtete den Kardinal genau. Etwas war seltsam an seiner Art. Das Gespräch schien ihm äußerst unangenehm zu sein.
Warum? Li Mai schaute Decker an, aber dieser schwieg. Sie war die Diplomatin. Also sprach sie weiter. »Es geht weniger um
China als vielmehr um das alte Tibet, genauer, um die Zeit vor dem 15. Jahrhundert ...«
Decker bemerkte, wie der Kardinal zusammenzuckte. Sie schien einen empfindlichen Nerv getroffen zu haben. Was Decker nicht
sah, war das Entsetzen, dass sich mit einem Schlag im Kopf des Kardinals ausbreitete.
Li Mai fühlte es auch, zögerte kurz, und sagte: »Es geht um die Verbindungen oder Kontakte zwischen Christentum und dem tibetischen
Buddhismus. Können Sie uns dazu etwas sagen?«
Das Unbehagen des Kardinals wurde jetzt offensichtlich. Er wirkte nervös. Dann sagte er mit gespielter Leichtigkeit: »Das
ist doch absurd. Wie kommen Sie darauf, dass es zwischen Rom und dem entlegensten Land der Welt eine Verbindung gegeben haben
könnte? Das ist völlig unmöglich.«
Li Mai erkannte, dass ihr Gegenüber aus irgendeinem ihr noch unbekannten Grund von vornherein abblocken wollte und dass es
schwer werden würde, diese Mauer zu durchbrechen. Aber sie hatte keine Zeit für lange Diskussionen. Deshalb machte sie klar,
dass sie sehr wohl wusste, was möglich war und was nicht: »Die
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