Das Tibetprojekt
Seidenstraße.«
|317| Der Kardinal war ungehalten. »Aber ich bitte Sie. Das sind doch alles nur Spekulationen.«
Li Mai ließ ihm keinen Platz zum Ausweichen: »Oh, ich denke da an die Manichäer, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen,
die Sie sicher gut kennen.«
Diese Worte drangen wie ein Dolch in das Herz des Kardinals. Er versteinerte innerlich. Dann fasste er sich erneut: »Hören
Sie, was immer Sie sich da zusammengereimt haben, das sind Spekulationen. Nichts davon ist haltbar. Nichts dokumentiert.«
Li Mai spürte seinen Widerstand. Aber auch, dass sie ihn in die Defensive drängen konnte. Sie wollte und musste ihn weichkochen.
So zog sie die Daumenschrauben langsam an: »Was ist mit Marco Polo? Oder gewissen Mönchen in Karakorum?«
Der Kardinal rang nach Luft. »Ach, das meinen Sie. Das hat alles nichts mit uns zu tun. Das waren arme verwirrte Seelen, die
sich in der Ferne verlaufen hatten.«
Li Mai und Decker sahen, dass er sich jetzt wie ein Aal am Spieß wand.
»Euer Eminenz«, fuhr Li Mai fort. »Ich sichere Ihnen absolute Diskretion zu. Dieses Gespräch hat nie stattgefunden, wenn Sie
es wünschen. Wir bitten Sie um eine Auskunft, die nie wieder irgendwo auftauchen wird. Es geht nur um einen Nebenkriegsschauplatz
aus unserer Sicht.«
Aber nicht aus unserer Sicht
, dachte der Kardinal. Sein Ton wurde schärfer: »Ich weiß nicht, warum Sie sich dafür interessieren oder an was für Informationen
Sie überhaupt gelangt sind. Soweit mir bekannt ist, gibt es darüber nichts Schriftliches.«
Außer in unseren geheimen vatikanischen Archiven. Und zu denen hat niemand Zutritt
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. Jedenfalls würden solche Dinge niemals nach außen dringen.
Li Mai versuchte weiterhin, die Abwehr des Kardinals zu knacken. »Nun, falls Sie an Ihr Archiv denken, der Vatikan ist nicht
der einzige, der Aufzeichnungen macht. Und vergessen Sie nicht, dass es für uns ein Heimspiel ist. Wir haben Zugang erhalten
zu den geheimen Chroniken der Tang und zu Fragmenten aus der legendären vermauerten Bibliothek.« Li Mai machte eine Pause
und betrachtete den Kardinal genau. Er war ganz offensichtlich aufgewühlt und verstört. »Zudem haben auch die Mongolen und
die Chinesen Historiker beschäftigt, denen so manches aufgefallen ist.«
»Hören Sie«, zürnte der Kardinal, beinahe aggressiv. »Tibet war jahrhundertelang völlig sich selbst überlassen und niemand
war jemals da. Das ist doch allen bekannt.«
»Seltsam, wirklich niemals?«, erwiderte Li Mai mit gespielter Nachdenklichkeit. »Wir wissen aber, dass zum Beispiel die Nestorianer
im 7. Jahrhundert eine Kirche in unserer damaligen Hauptstadt Chang’an gegründet haben.«
»Ach Gott, ein paar abtrünnige Idealisten. Unbedeutend«, sagte der Kardinal.
»So? Wir wissen auch, dass der besagte Manichäismus es im 8. Jahrhundert immerhin bis zur Staatsreligion bei den Uiguren gebracht hat, einer Region mit Tausenden von Grenzkilometern zu
Tibet. Nennen Sie das auch unbedeutend?«
»Pah. Sekten. Damit haben wir nichts zu tun.«
Decker blickte Li Mai an. Der Kardinal wollte offensichtlich nicht reden.
Li Mai nahm ihre Notizen zur Hand und beschloss |319| nun, ihm unmissverständlich klarzumachen, dass sie ihm nicht glaubte: »Ihre Leute waren ebenfalls vor Ort, Eminenz, sogar
mehrfach im Laufe der Zeit. Wir wissen, dass der Franziskanermönch Giovanni del Piano di Carpine im 13. Jahrhundert – also noch vor Marco Polo – beim mongolischen Großkhan zu Gast war.«
Der Kardinal erschrak und sein Körper schien zu beben.
Li Mai las weiter vor: »Danach war der flämische Mönch Wilhelm von Rubruk für viele Jahre am Hofe des Khans in Karakorum.
Er ist immerhin im Auftrag von Innozenz IV. gereist, soviel uns bekannt ist, und war vermutlich der erste, der den Europäern
etwas von Tibet erzählt hat – er oder der Franziskaner Oderich von Pordenone, der im frühen 14. Jahrhundert China und die Mongolei bereiste.« Sie machte wieder eine Pause und blickte den Kardinal an, der versuchte ein
Pokergesicht aufzusetzen. »Warum waren die alle da, Eminenz?«, fragte sie ihn fast ungebührlich direkt. »Und wieso steht davon
so gut wie nichts in europäischen Geschichtsbüchern?«
Decker sah Li Mai voller Staunen an. Sie hatte ihre Hausaufgaben wirklich gemacht. Und keinen Respekt vor dem Kardinal. Das
gefiel ihm.
»Ach, die hatte ich ganz vergessen«, sagte dieser zuckersüß. »Es waren harmlose Missionare, die
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