Das Tibetprojekt
mit dem nächsten Satz,
denn der enthielt die ungeheure Behauptung, auf die es ihr ankam. Aber dann brachte sie ihn. »Wenn ich etwas deutlicher werden
darf, Euer Eminenz, dann könnte man vermuten, dass der Orden, aus dem die Dalai Lamas hervorgingen, von christlichen Missionaren
gegründet wurde.«
Der Kardinal lachte hysterisch. »Das ist doch verrückt. Nur weil ein paar zufällige Parallelen auftauchen?«
Das können sie unmöglich herausgefunden haben.
»Das wären aber viele Zufälle.« Li Mai spielte ihr Spiel weiter. »Kennen Sie das größte tibetische Fest?«
Der Kardinal versteinerte völlig und stotterte: »Ja, leider. Das Neujahrsfest.«
»Und wissen Sie, was da so alles passiert?
Der Kardinal fiel in sich zusammen. »Sicher, es geht zu wie Sodom und Gomorrha.«
»Aber da ist noch etwas ganz anderes, das so elementar biblisch ist, dass man es kaum übersehen kann.«
»Nein, schweigen Sie!«, stöhnte Giallo.
»Sie wissen also, wovon ich rede?«
»Jom Kippur. Der Sündenbock, das Versöhnungsfest.« Der Kardinal schien sich aufzugeben. »Oder die Farce, die daraus gemacht
wurde.«
»Ja, genau das.« Li Mai war jetzt sehr bestimmt. »Vielleicht können wir das Versteckspiel jetzt lassen und zur Sache kommen.
Wie kam dieses biblische Gleichnis nach Lhasa?«
Giallo stand kurz davor, endgültig zusammenzubrechen |326| . Er wechselte gänzlich seine Tonlage und klang geradezu verzweifelt. »Die verzerrten Messen, die falschen Gesänge, der Sündenbock.
All das ist ein Teufelswerk! Ein gottloses Teufelswerk. Luzifer machte aus unserem Glauben ein Possenspiel. Verstehen Sie?«
»Ehrlich gesagt, nein. Es war doch ein Werk der Missionare, oder nicht?«
Plötzlich sprudelten die Worte nur so heraus: »Nein! Das waren nicht wir. Satan hat uns übel mitgespielt. In Tibet wurde das
Wort Gottes entweiht wie nirgendwo sonst und die Ehre der Jungfrau Maria mit Schmutz besudelt.« Er war den Tränen nahe und
völlig aufgelöst. »Wir haben das nie so gewollt.« Er stützte seinen Kopf in die Arme. »Das müssen Sie mir glauben. Wir konnten
es nicht verhindern.« Er blickte hilfesuchend um sich. »Was Sie erraten haben, wissen wir schon seit langem. Es ist eine Schande.«
Er zitterte vor Zorn. Dann bekreuzigte er sich und sah mit panischen Blicken in die Kamera. »Meiden Sie Tibet! In Tibet herrscht
das Böse.«
Li Mai sah Decker überrascht an. Decker hörte nur aufmerksam zu.
Der Kardinal fuhr fort: »Tibet ist das Reich der Verdammnis und – Gott steh uns bei – das Reich der Finsternis! Dantes Inferno.
Das verlorene Volk. Verlassen Sie es, solange Sie können. Der ewige Schnee birgt ewiges Unheil.« Er klammerte sich an seinen
Rosenkranz, sprach ein kurzes Gebet auf Lateinisch, dann verstummte er.
Decker und Li Mai sahen sich erneut an und schwiegen eine Weile. »Ob Sie es glauben oder nicht, Eminenz, aber da stimme ich
Ihnen zu,« sagte Li Mai. »Und da wir endlich beim Thema sind, würde ich Ihnen an dieser Stelle gern jemanden vorstellen, der
sich besonders für das Böse in Tibet interessiert.«
|327| Li Mai winkte Decker vor die Kamera.
Als er Decker erblickte, entfuhr Giallo ein: »Sie? Sie glauben doch nicht, dass ich Ihnen auch nur eine Minute zuhören werde.«
»Euer Eminenz«, sagte Decker ruhig. »Ich freue mich auch sehr. Im übrigen helfen Sie gar nicht mir, sondern dem Vatikan selbst.«
»Wie bitte?«
»Sehen Sie hier ...« Decker nahm das Foto des toten Professors zur Hand.
Li Mai war entsetzt. Der Vorgang war geheim. Was machte Decker da bloß?
»Kennen Sie diesen Mann, Eminenz?« Decker hielt das Foto vor die Kamera. »Dieser Mann ist Wissenschaftler. Er wurde vor kurzem
in Tibet tot aufgefunden.«
»Heilige Mutter Gottes!« Der Kardinal erschrak. »Wo um alles in der Welt haben Sie das her?«
»Sie kennen ihn also?«, fragte Decker.
Li Mai verstand gar nichts mehr.
Der Kardinal schwieg. Was sollte er tun?
Nach einigem Zögen entschied er sich für die Wahrheit. Er wusste keinen anderen Ausweg mehr.
»Ja.«
»Er hat für den Vatikan gearbeitet, stimmt’s?«
»Ja.«
Li Mai sah Decker völlig perplex an.
Der Kardinal senkte den Kopf und blickte traurig auf seine im Schoß gefalteten Hände. »Wir haben gestern von seinem Tod erfahren.
Es war ein schwerer Schlag. Ein schrecklicher Unfall.«
Decker wartete ein paar Sekunden und sagte dann: »Das war kein Unfall. Das war Mord.«
|328| »Jesus hilf uns!« Im Gesicht des Kardinals
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