Das Tibetprojekt
aus Übereifer in die Welt
zogen. Weiter nichts. Das gab es immer schon.«
»Ach ja?«, fauchte Li Mai. »Wenn das alles so harmlose Aktionen auf eigene Faust waren, wie Sie sagen, dann frage ich mich,
warum es über die nächsten drei Jahrhunderte überhaupt keine Informationen mehr gibt. Für mich sieht das nach bewusster Geheimhaltung
aus.«
Decker glaubte, die Augen des Kardinals blitzen zu sehen |320| , so als ob er etwas wie eine Chance zur Flucht erkannt hatte. Oder war es Angst?
Li Mai bemerkte es auch, hielt kurz inne und überlegte. Es war eine Gratwanderung. Wenn sie zu viel Druck ausübte, brach der
Kardinal das Gespräch womöglich ab und sie gingen leer aus. Wenn sie zu leicht nachgab, ebenfalls. Sie beschloss, ihn mit
Fakten in die Enge zu treiben. »Der nächste Kontakt war im 17. Jh der portugiesische Jesuiten-Pater Antonio de Andrage. Mit ihm gelangten zum ersten Mal Europäer nach Tibet hinein. Sie
gründeten sogar in der westtibetischen Stadt Tsaparang eine Mission, die bis 1636 bestand. Ihm folgen die portugiesischen
Jesuiten Patres Estevano Cacella und Joao Cabrai, die in Schigatse bis 1635 eine Mission unterhielten. Als nächstes tauchten
wieder Jesuiten auf. Die waren anscheinend besonders neugierig. Johann Grüber und Albert d’Orville erreichten als erste Menschen
aus dem Westen Lhasa. Wieso waren die ersten Entdecker Tibets nur Geistliche und darüber hinaus plötzlich nur noch Jesuiten?
Ausgerechnet Jesuiten, mit denen der Vatikan ohnehin so seine Sorgen hatte.«
»Keine Ahnung«, erwiderte der Kardinal gespielt beiläufig.
Aber Li Mai gab nicht auf. Denn seltsamerweise hörte der Kardinal ihr immer noch zu. Vielleicht stellte das Thema ja eine
Gefahr für den Vatikan dar, und der Kardinal ließ sich absichtlich vorführen, um zu erfahren, wieweit sie Bescheid wussten.
Wie auch immer, sie spielte ihre Karten ruhig weiter aus. »Ab dem frühen 18. Jahrhundert gab es eine Missionsstation der Jesuiten in Lhasa, in der zum Beispiel später auch Ippolito Desideri gearbeitet
hat. 1745 wurde die Mission geschlossen. Aber interessanterweise nicht von |321| China und auch nicht von den Tibetern. Hat Rom das angeordnet? Immerhin hob 1773 Papst Klemens XIV. den Orden der Jesuiten ganz auf. Gibt es da einen verborgenen Zusammenhang mit der Mission in Tibet?«
»Das müssen Sie die Jesuiten fragen, nicht mich«, sagte der Kardinal.
Li Mai überlegte erneut. Es schien zwecklos. Ihr Ansatz führte nicht weiter, aber sie wollte nicht lockerlassen. Vielleicht
landete sie ja einen Zufallstreffer. »Erst ganze hundert Jahre später, um 1846, erreichen wieder zwei französische Mönche,
Evariste Huc und Joseph Gabet die Stadt Lhasa. Allerdings gab es bis dahin dann auch die ersten wirtschaftlichen und wissenschaftlichen
Beziehungen zu Tibet, und Lhasa war kein unbekanntes Territorium mehr in Europa. Ich frage mich, wieso war gerade jetzt, wo
es einfacher war als in all den Jahrhunderten zuvor, keine größere christliche Mission mehr vor Ort? Hatte der Vatikan plötzlich
sein Interesse verloren?«
Decker schaute Li Mai sprachlos an. Nicht übel!
Auch der Kardinal war sichtlich erstaunt über das präzise Wissen der jungen Frau und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Euer Eminenz?«, fuhr Li Mai mit fester Stimme fort. »Sie sehen, es gab regen Kontakt zwischen Rom und dem Schneeland. Vielleicht
wären Sie so nett und würden jetzt Ihren Teil ergänzen? Was war zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert, in der Zeit, für die wir merkwürdigerweise keine Unterlagen finden konnten?«
Decker überlegte immer noch, ob er sich einmischen sollte. Indirekt hatte Li Mai dem Kardinal bereits mehrfach gesagt, dass
er ein Lügner sei. Warum ließ er sich das bieten und brach das Gespräch nicht einfach ab? Was |322| konnte für ihn so wichtig sein, dass er sich dafür beleidigen ließ?
Decker fasste einen Entschluss.
Wir werden ja sehen.
Er stand auf und holte das Foto des toten Professors.
»Das kann ich Ihnen auch nicht sagen«, lamentierte der Kardinal.
»Vielleicht kann ich Ihr Gedächtnis etwas auffrischen.« Li Mai fixierte den Geistlichen mit ihren dunklen Augen. »Wie Sie
vielleicht wissen, war der 6. Dalai Lama etwas aus der Art geschlagen und führte ein exzessives Leben. Nun, es gibt Gerüchte über diesen Gottkönig, die
besagen, er hätte sich nachts heimlich mit den Weißmützen getroffen. Sagt Ihnen das etwas?«
Der Kardinal
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