Das Tibetprojekt
Dalai Lama verschweigt das Neujahrsfest vollständig in seinen Büchern.«
Es entstand eine kurze Pause des Schweigens, dann fragte die Chinesin mit einem zweideutigen Blick: »Und was machen wir jetzt?«
»Na, wir müssen endlich rausfinden, was diese alte Religion eigentlich ist und wo sich dieser Tempel des Schreckens befindet.
Nachdem was wir da gerade erfahren haben, brauche ich eine Verbindung zum Vatikan. Zu jemandem, der sich in gewissen uralten
Geheimnissen auskennt. Also, jemand sehr weit oben. Meinst du, das könntest du hinkriegen.«
»Sicher, Chef«, sagte Li Mai ironisch und seufzte.
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Decker und Li Mai nahmen vor dem Plasmaschirm Platz und stellten ihre Teetassen auf das kleine Tischchen vor ihnen. Sie hatte
tatsächlich in kürzester Zeit einen Experten gefunden, der ihnen bei der Suche nach den alten tibetischen Göttern helfen wollte.
Professor Long Chan hatte einen Lehrstuhl für asiatische Religionsgeschichte an der Universität Stanford. Er galt als äußerst
kompetenter Kopf und sah aus, als wäre er noch keine dreißig Jahre alt. Er trug ein verschwitztes T-Shirt und eine Sonnenbrille, die er jetzt hastig abnahm.
»Sorry«, sagte er. »War gerade joggen, als eure Leute mich anriefen. Was kann ich für euch tun, Freunde?«
Li Mai begrüßte ihn und berichtete dem jungen Mann einiges von dem, was sie bisher herausgefunden hatten.
»Darf ich Ihnen Dr. Decker vorstellen?«, fragte sie schließlich. »Er hat noch ein paar weitere Fragen.«
Long Chang lachte. »Dr. Decker kenne ich schon«, sagte er. »Wir waren letztes Jahr zusammen auf einem Kongress über
Psychoanalyse und Religion
in Miami. Hi, Phil! Schön, Sie zu sehen.« Er winkte vergnügt in die Kamera.
Decker erschrak. Er hatte Long Chan im ersten Augenblick nicht erkannt. Er musste sich wirklich angewöhnen, diese chinesischen
Gesichter ein bisschen genauer |255| anzusehen und sich ihre Namen zu merken. »Hi, Chang!«, rief er munter. »Schön, Sie wiederzusehen!«
Long Chang nickte fröhlich. »Womit kann ich Ihnen helfen?«
»Uns beschäftigen zwei Fragen«, sagte Decker. »Erstens: Wir vermuten, dass es in Tibet eine alte Urreligion gab. Wir würden
gerne mehr darüber erfahren. Wir möchten wissen, was das für ein Glaube war und ob man ihn eventuell heute noch irgendwo finden
kann. Zweitens: Wir wissen, dass der tibetische Buddhismus im Verlauf der Geschichte äußerlich stark verändert wurde. Aber
wir wissen nicht genau, ob und wie er innerlich umgebaut wurde und was er heute eigentlich darstellt.«
Long Chang überlegte einen Moment, dann sagte er: »Das ist im Grunde nur eine Frage. Die alte Religion haben Sie schon gefunden,
Phil. Man hat versucht, sie zu vernichten und ihre Spur zu verwischen. Aber das ist misslungen.« Der Stanford-Professor rückte
seine Brille zurecht und sammelte seine Gedanken. »Es ist eine lange Geschichte. Eine gruselige Geschichte. Sie führt weit
zurück in das Dunkel der Vergangenheit Tibets und in die Tiefen der menschlichen Seele.«
So was gefiel Decker natürlich. »Klingt gut. Was genau meinen Sie damit?«
Der Religionsgeschichtler räusperte sich. »Um Tibet zu verstehen, müssen Sie sich Menschen vorstellen, die, wie andere Naturvölker
auch, versuchten, die seelischen Vorgänge in ihrem Inneren und die Welt um sie herum zu begreifen und zu beeinflussen.«
»Kein Problem für mich.« Decker wurde neugierig. »Wie sah es also im Himalaja aus?«
»Die alten Tibeter glaubten an Geister und Dämonen, |256| die überall hausten. Sie waren vom Aberglauben besessen und sahen sich vermutlich als hilflose Opfer des Schicksals. Um das
nachvollziehen zu können, müssen Sie sich die karge, lebensfeindliche Hochgebirgslandschaft vor über 1500 Jahren vorstellen. Die Tibeter waren eine paläo-mongolische Rasse. Sie lebten als Nomaden und zogen als Jäger und Hirten durch
dieses wilde Land mit seinen extremen Lebensbedingungen. Der Tod war ihr ständiger Begleiter, und niemand weiß, wie viel Härte
und Ängste sie zu ertragen hatten. Es war ein raues und sehr gefährliches Leben.«
Decker unterbrach: »Könnte man auch sagen, ein Leben von Kriegern?«
»Ja. Auf zwei Ebenen. Es gab Krieg unter den verfeindeten Clans und Krieg unter Göttern. Und so wie die Naturgewalten, die
Menschen und ihr Leben, war auch ihr Glaube. Unbarmherzig und kalt.«
»Jetzt wird’s interessant.« Decker nahm einen Schluck Tee und lehnte sich zurück.
»Die
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