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Das Tibetprojekt

Titel: Das Tibetprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Kahn
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nicht so schlecht damals. Die Männer sind sehr praktisch mit ihnen
     umgegangen. Bei den Ärmsten mussten zwei oder drei Brüder sich eine Frau teilen, wer etwas wohlhabender war, kriegte eine
     eigene Frau, und nur die Fürsten hatten jede Menge Frauen und Mädchen.« Er grinste, als Li Mai ihn voller Empörung auf chinesisch
     beschimpfte.
    »Und wie viel«, fragte Decker, dem dieser kleine transpazifische Flirt entschieden zu weit ging, »hat nun von der alten Bön-Religion
     überlebt?«
    »Tja, die Antwort ist kurz und überraschend.« Long Chang machte eine kurze Pause und sagte dann: »Praktisch alles.«
    »Wie bitte?« Decker stellte die Tasse neben der Untertasse ab und beugte sich vor. »Sie wollen doch wohl nicht behaupten,
     die machen heute noch blutige Opfer.«
    Der Chinese neigte den Kopf hin und her. »Nun, es gab Gerüchte, dass vor der Invasion in einigen versteckten Tälern geheime
     Bruderschaften und deren Priester die alten Geister noch beschworen und die alten Rituale noch vollzogen haben. Aber offiziell
     gab es das nicht mehr. Man hat dem Bön sicher ein paar Zähne gezogen im Laufe der Zeit. Aber die Toten wurden zum Beispiel
     noch bis ins 20.   Jahrhundert hinein an die Geier verfüttert |260| . Einige alte Tibeter im indischen Exil machen sich große Sorgen, weil die Zahl der Geier sehr zurückgegangen ist, stand neulich
     in
Newsweek.
Sie haben Angst, man kann sie nicht mehr richtig bestatten und ihre Wiedergeburt ist in Gefahr.«
    »Wollen Sie damit sagen: Die Götter des Bön wurden gar nicht vernichtet?«, warf Decker ein.
    »Ja, genau«, bestätigte Long.
    Decker versuchte das mit dem bisher Entdeckten in Einklang zu bringen. »Und wo lebt diese Bön-Religion?«
    »Wo sie immer lebte.« Er machte ein Pause. »Der alte Bön-Glaube ist der heutige tibetische Buddhismus!«
    Decker und Li Mai warfen sich einen raschen Blick zu und schauten dann wieder auf den Bildschirm. »Sie können uns also bestätigen,
     dass der tibetische Buddhismus im Grunde gar kein Buddhismus ist?«
    »Das kann man wohl sagen, ja.«
    »Chapeau, mein Lieber«, sagte Li Mai und klopfte Decker auf die Schulter.
    Long Chang fügte hinzu: »Genauer gesagt, der tibetische Buddhismus ist im Grunde nichts anderes als ein primitiver Geister-
     und Aberglaube aus der geschichtslosen, grauen Vorzeit Tibets.«
    »Dann passt einiges zusammen«, sagte Decker und überlegte im Stillen weiter.
    Li Mai richtete sich an den Professor. »Das erklärt, was wir schon herausgefunden haben über die Rituale. Wir wollten nicht
     glauben, dass der echte Buddha sich hingesetzt und mit Trommeln und Glöckchen herumgespielt oder ein Staatsorakel eingerichtet
     und mit Geistern geredet hätte.«
    Long Chang lachte. »Da haben sie recht. Das, was Sie |261| heute in Tibet vorfinden, müsste man auch eher Schamanismus nennen.«
    »Hochinteressant«, murmelte Decker. Allmählich wurde klar, was die Nazis in Wirklichkeit in Lhasa gesucht haben könnten.
Hitler wusste: Im tibetischen Buddhismus lebten noch die grausigen Kriegs- und Schreckensgötter der Urzeit.
     
    Decker blickte den Professor über die Kamera an. »Jetzt drängt sich mir allerdings die Frage auf, wie die Entwicklung abgelaufen
     ist. Vor allem so unbemerkt und scheinbar reibungslos. Ich habe darüber nichts gefunden in unseren Büchern.«
    Der amerikanische Chinese hob den Zeigefinger im Stil eines Vortragenden. »In den orthodoxen buddhistischen Lehrbüchern finden
     Sie das alles natürlich nicht. Da müssen Sie schon andere Quellen heranziehen, aber Sie sollten den Fakten glauben und nicht
     den Lamas. Im Prinzip können wir davon ausgehen, dass irgendwann Bön und Buddhismus miteinander verschmolzen sind. Das Ergebnis
     ist ein echt heißer Cocktail, ein Mix aus zwei Glaubenssystemen.«
    »Sie meinen, das war so ähnlich wie bei Juden, Christen und Germanen?«, unterbrach Decker. »Aus dem jüdischen Pessach wurde
     das christliche Ostern? Aus dem jüdischen Wochenfest Schawuot wurde Pfingsten   ...«
    »...   erraten. Und aus der heidnischen Sonnwendfeier wurde Weihnachten«, ergänzte Long Chang. »Die christlichen Missionare wollten
     die alten Germanen ja nicht verärgern.«
    »Und so ähnlich war es auch in Tibet?«, fragte Li Mai.
    »Genau so«, grinste der Chinese.
    »Aber der Dalai Lama erklärt doch, dass im tibetischen |262| Buddhismus die echte Lehre Siddhartas überliefert ist.«
    Long Chang lachte. »Vergessen Sie’s! Der Buddhismus ist erst 250   Jahre

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