Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Tibetprojekt

Titel: Das Tibetprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Kahn
Vom Netzwerk:
dagegen, dass sie
     jedes Verlangen und alles, was ihnen im Leben Glück und Befriedigung gibt, aufgeben sollen, um ihr Heil in Askese und Meditation
     zu suchen. Sie wehren sich auch gegen die unerträgliche Herrschaft der Lamas. Der Sündenbock verkörpert dieses |248| jahrhundertealte Aufbegehren der alten Wünsche gegen die neue Religion. Vergiss nicht, dass sie diese Religion ja nicht freiwillig
     akzeptiert haben. Sie wurde ihnen aufgezwungen von oben. Von ihrem König. Bis heute müssen die alten Sehnsüchte des Volkes
     jedes Jahr aufs Neue verbannt werden. Dazu muss der Sündenbock herhalten. Es ist nur ein Ritual. Aber es enthält eine uralte
     Wahrheit. Und wie im Karneval darf im Rahmen dieses Rituals ausgedrückt werden, was die Leute denken und fühlen. Nur zwei
     Dinge müssen auch im Spiel klar sein. Erstens, dass es beim Spiel bleibt, und zweitens, dass auf Ketzerei der Tod steht.«
    Decker tauchte langsam aus seiner Versenkung auf, sah Li Mai verblüfft an, als sei er sich ihrer Anwesenheit gerade erst wieder
     bewusst geworden, stand auf und ging hin und her. »Ich glaube, die Tibeter hassen den Buddhismus aus tiefster Seele und würden
     ihn und all die Lamas am liebsten aus dem Land jagen.«
    Li Mai war beeindruckt, zog es aber vor, lieber skeptisch zu bleiben. »Übertreibst du nicht etwas?«
    »Glaubst du, die würden so ein Theater veranstalten, wenn die mit ihrem Leben und ihrer Religion zufrieden wären?«
    »Du meinst, die Tibeter hassen den Buddhismus genauso wie die Chinesen und den Sozialismus?«
    »Kann schon sein. Du kennst ja Deutschland ein bisschen. Stell dir vor, es würde uns jemand eine neue Regierung mit einer
     neuen Religion aufdrücken. Ab sofort wären Sex, Fußball, Schweinefleisch, Bier, Schnaps, Kino und die Formel 1 verboten. Es
     wird uns gesagt, dass sei alles nur eine Illusion und wir bildeten uns nur ein, dass es Spaß macht. Das wäre dann das neue
     buddhistische Deutschland.«
    |249| »Fußball auch?«, lachte Li Mai. »Da würden aber einige Leute dumm gucken.«
    »Genau, und jetzt überleg mal, was bei uns los wäre, wenn an einer Woche im Jahr das alte Leben wieder erlaubt wäre?«
    Li Mai riss die Augen auf, als die Erkenntnis sie ereilte. »Eine Explosion der Lebensfreude, ein Erdbeben   ... ah, jetzt verstehe ich. Die wahre Natur und Leidenschaften brächen hervor.« Sie ballte die Faust. »Das wäre wie eine Befreiung.«
    »Genau das passiert in Tibet am Neujahrsfest. Wenn es das nicht gäbe, wäre das Leben nicht auszuhalten. Es ist wie ein Deal
     mit den Herrschenden und der Staatsideologie: Ihr könnt uns das ganze Leben lang knechten. Aber dafür sind wir einmal im Jahr
     nicht zu bremsen.«
    »Jetzt sehe ich es auch«, sagte Li Mai. »Der Sündenbock vertritt das gute alte Leben, das von der neuen Religion und Herrschaft
     verteufelt wurde. Er steht für die unterdrückte, triebhafte Seite der Menschen.«
    »Ja.« Decker sah auf den Bildschirm. »Sex and Crime. Oder Sexualität und Aggression«
    »Ja. Scheint, dass unsere Freunde im Himalaja es damit nicht leicht hatten. Oder aber beides sehr intensiv betrieben haben,
     bevor ihnen jemand die Fesseln des Buddhismus verordnete.«
    Decker ging den Text noch einmal durch. »Aber es geht hier beim Sündenbock um noch viel mehr, und die Sache ist viel ernster
     als unser Karneval, denke ich, wo auch so mancher fremdgeht und sich mal prügelt. Da in Tibet Buddhismus und Staat eins waren,
     wird klar, dass der Sündenbock die Grundpfeiler der Nation angreift. Eine ungeheure Blasphemie. Die gesamte öffentliche |250| Ordnung wird erschüttert und in Frage gestellt.«
    »Das ist natürlich gefährlich.«
    »Richtig«, sagte Decker, »aber selbst das ist noch nicht alles. So wie es aussieht, geht es nicht nur um menschliche Regungen
     und den Frust an ihrer Gesellschaft. Sondern auch darum, was uns am meisten interessiert: Beim Neujahrsfest geht es um die
     alte Religion!«
    »Deswegen muss der Sündenbock sterben?«, fragte Li Mai.
    »Ja«, sagte Decker. »Die Kruste der Kultur bricht auf, und die alte Religion und die animalischen Triebe kommen ans Licht.«
    »Die Wiederkehr des Verdrängten«, sagte Li Mai.
    »Genau, und zwar im doppelten Sinn. Genau das steckt hinter dem Sündenbock.«
    »Das hieße also«, sagte Li Mai, »die alte Religion wurde zwar unterdrückt, aber sie wurde nicht ausgelöscht.«
    »Ja. Die Einführung des Buddhismus in Tibet ist in Wahrheit gescheitert. Er hat die alte Religion

Weitere Kostenlose Bücher