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Das Tibetprojekt

Titel: Das Tibetprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Kahn
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meisten der alten Götter waren Schreckgespenster und Horrorgestalten. Das war die Grundlage für den tibetischen Schamanismus.«
    Decker horchte auf. »Die Urreligion Tibets war ein Schamanismus? Wie hieß er?«
    »Man nennt ihn den Bön-Glauben.«
    »Komischer Name. Klingt schwedisch«, frotzelte Li Mai.
    »Der Name ist unwichtig. Dahinter verbirgt sich wirklich ein furchterregender Geisterglaube. Teilweise hatte er bestialische
     Züge an sich. Für uns heute völlig unvorstellbar.«
    »Zum Beispiel?« Decker lehnte sich etwas vor.
    »Es gab blutige religiöse Rituale. Beispielsweise hatte |257| man in Tibet grausame Kulte für Opferungen und Hinrichtungen von Menschen. Ihre Feinde haben die Anhänger des Bön massakriert
     und ihre Knochen als Trophäen getragen. Wahrscheinlich schmückten sich auch die Priester und Krieger mit Totenköpfen.«
    Na bitte. Das entspricht schon eher den Vorstellungen des Dritten Reiches. Wir sind auf der richtigen Spur,
dachte Decker.
    »Ist das historisch haltbar?«, fragte Li Mai.
    »Oh ja. Es gab diesen Geisterglauben nicht nur in Tibet, sondern in ganz Innerasien, Turkestan, der Mongolei, der Mandschurei
     und Nordchina. Eine ähnliche, wenn auch nicht so blutrünstige Variante des Schamanismus finden Sie heute immer noch von Tibet
     bis hinauf nach Sibirien. In den Chroniken der Tang-Dynastie und der sogenannten ›Geheimen Geschichte der Mongolen‹ finden
     Sie alles, was zu der Vergangenheit des Bön gehört. Dort wird zum Beispiel auch davon berichtet, dass für die Genesung eines
     Prinzen den Dämonen mehrere Untertanen dargebracht wurden. Priester riefen die Götter an und rissen dem menschlichen Opfer
     bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust. Vermutlich begleiteten auch extatische Orgien die magischen Zeremonien.«
    »Das erinnert an die Azteken«, warf Decker ein.
    »Das können Sie durchaus vergleichen. Und so blutig, wie sie ihre Götter verehrten, so bestatteten sie auch ihre Toten. Die
     Leichen wurden nicht beerdigt. Man zerhackte sie stattdessen und verfütterte sie an die Vögel.«
    Li Mai hob verblüfft die Augenbrauen. Decker kannte solch makaberen Rituale aus anderen primitiven Kulturen und fragte unbeeindruckt
     weiter: »Was genau waren das für Götter?«
    |258| Long Chang sammelte seine Gedanken. »Die Bön-Mythologie war fantastisch: Sie ist das Haupt der neun Götter, die die Welt geschaffen
     haben. Er trägt eine Kristallrüstung und reitet auf einem Schimmel mit türkisfarbenen Flügeln. Tsen ist der Gott des Feuers
     und der Zerstörung, der Schutzgott der Banditen und Räuber. Er trägt eine kupferne Rüstung, hält einen Krummsäbel und ein
     Lasso und reitet einen Rotschimmel.«
    »Einen Schutzgott für Banditen? Nette Gesellschaft.« Decker lächelte und machte sich Notizen.
    »Wie gesagt, ein raues Land.« Der Chinese wischte sich die Haare aus dem Gesicht. »Dü ist der Götterbote der Dunkelheit und
     des Unglücks, Krähen und schwarze Schweine sind seine Tiere. Er reitet einen Rappen, Rüstung, Helm und Schwert sind aus Eisen,
     in der Hand hält er einen Speer mit schwarzem Banner. Nyen ist der Beschützer des tibetischen Volkes. Man erzürnt ihn durch
     das Fällen von Bäumen oder wenn man heiligen Grund aufgräbt. Za ist der Gott der psychischen Energie, des Blitzes und Hagels.
     Er straft mit Epilepsie und Wahnsinn, wenn man irgendetwas Zusammenhängendes unterbricht, z.   B. ein Seil durchtrennt. Er ist der Schutzgott der Magier, sein Tier ist der Drache. Dargestellt wird er mit achtzehn Köpfen
     und sechs Armen, auf einem zornigen Krokodil reitend. Er hält ein Siegesbanner, ein Schlangenlasso, einen Beutel mit vergiftetem
     Wasser, einen Bogen und ein Bündel Pfeile. Drala ist der Kriegsgott und Beschützer der Soldaten und Heerführer. Ihm unterstehen
     auch Sturm und Wolken. Er straft mit Demütigung und Skandal, Schlaflosigkeit und Alpdruck. Die weißen Yaks, Pferde, Adler
     und Raben sind seine heiligen Tiere.«
    »Das ist ja eine tolle Truppe von finsteren Typen«, |259| sagte Decker beeindruckt. »Schlimmer als die apokalyptischen Reiter. Gab’s gar keine Frauen?«
    »Doch«, sagte Long Chang. »Es gab eine Göttin. Lu hieß sie, wohnte am Wasser und war für die üblichen weiblichen Aufgaben
     zuständig: Fruchtbarkeit, Heim und Herd und so weiter. Ihr Tier war die Schlange.«
    »Typisch«, sagte Li Mai. »Die kriegt natürlich keine kristallene Rüstung.«
    »Och«, sagte der Stanford-Mann, »den Frauen ging es gar

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