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Das Tibetprojekt

Titel: Das Tibetprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Kahn
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einfach nur unterdrückt
     und sich darübergelegt. Das kommt gelegentlich vor, wenn Kulturen zusammenstoßen. Ethnologen nennen das
Überlagerungsherrschaft

    »Aber das würde ja bedeuten«, sagte Li Mai, »dass sie noch irgendwo existiert.«
    »In der Tat. Tibet ist ein äußerst gefährliches Land. Irgendwo auf dem Dach der Welt gibt es einen Ort, wo die alte Religion
     sich versteckt. So wie sich in der Seele des Einzelnen das Bedürfnis versteckt, zu rauben, zu morden und zu vergewaltigen.«
    »Das Unbewusste der ganzen Gesellschaft. Sozusagen. Oder besser gesagt, ein Ort, an dem der alte Glaube im Verborgenen weiterlebt.«
    |251| »Ja. Und was das für ein Ort sein könnte, wird auch erkennbar.« Decker zeigte auf eine Stelle im Text. »Nämlich dort, wo der
     Sündenbock hingeht.«
    »Die Kammer der Dämonen?«
    »Richtig. Klingelt es bei dir? Gib dem einen anderen Namen.«
    Li Mai überlegte. Dann brach es aus ihr hervor: »Der Tempel des Schreckens!«
    »Genau. Der Tempel des Schreckens scheint der Ort zu sein, in dem sich das alles konzentriert. Das gesellschaftliche Unbewusste,
     gefangen im Kerker.«
    »Wir müssen also diesen Ort finden. Da liegt die alte Religion.«
    »Und die Erklärung für den Mord an dem Professor.« Decker schoss noch etwas durch den Kopf. War dort auch zu finden, was Hitler
     gesucht hatte?
     
    »Also, nichts wie hin.« Als Li Mai sich vom Laptop abwenden wollte, hielt sie Decker zurück.
    »Warte mal. Da ist noch etwas anderes. Es ist für uns so selbstverständlich in den Sprachgebrauch übergegangen, dass wir an
     den eigentlichen kulturellen Ursprung gar nicht mehr denken.«
    »Ich bin Chinesin.«
    »Stimmt, ja«, einen Augenblick war Decker verwirrt. Dann fuhr er fort: »Also, der
Sündenbock
. Und
jemanden in die Wüste schicken
. Das sind bei uns feste Redewendungen. Aber sie haben einen ganz anderen Ursprung. Sie dürften in Tibet eigentlich gar nicht
     vorkommen.«
    »Was?«
    »Auch wenn ich nicht weiß, wie das Ganze nach Lhasa gekommen sein könnte, es weist auf einen sehr interessanten Zusammenhang
     hin.«
    |252| »Was denn, Zusammenhang womit?«
    »Es ist eine Szene aus dem Alten Testament. Der Sündenbock entstammt der Bibel.«
    »Verstehe. Aber das ist doch ein jüdisches Buch?«
    »Ja, genau.« Decker griff nach seinem Laptop und gab die Begriffe bei Google ein. »Voilà. Das ist die Stelle: Leviticus 16   Vers 20   -   22.   Da geht es um den Sündenbock, bzw. zwei Böcke. Einmal soll er geschlachtet werden, ein anderes Mal soll er in die Wüste geschickt
     werden, um die Sünden der Kinder Israels zu sühnen!«
    Li Mai sah ihn fragend an: »Ja, und?«
    »Überleg doch mal, was das heißt! Das tibetische Neujahrsfest spiegelt ein biblisches Ereignis wieder aus dem alten Testament.
     Und nicht irgendeins. Es geht um Jom Kippur, den höchsten jüdischen Feiertag. Li Mai, der Sündenbock kann kein Zufall sein.
     Dieses Konzept aus dem alten Israel muss da irgendwie hingekommen sein, verstehst du? Ist dir nicht klar, worauf das alles
     hindeutet?«
    Sie schien langsam dahinterzukommen: »Du meinst doch nicht etwa   ...«
    »...   doch genau das. Es muss eine Erklärung dafür geben, wie dieses Ritual auf das Dach der Welt gelangt ist.« »Du meinst, die
     Juden   ...?«
    »Nicht unbedingt, es können auch christliche Einflüsse sein. Die Christen betrachten das Alte Testament auch als heilige Schrift.«
    »Aber wie kann das sein? Tibet war doch über Jahrhunderte völlig isoliert und abgeschirmt von der Welt.«
    »Das ist genau die Frage, um die es geht. Vielleicht war das Dach der Welt gar nicht so unzugänglich, wie wir immer gedacht
     haben.«
    Decker kramte in seiner Erinnerung. Hatte nicht der |253| General was von Missionaren in Karakorum erzählt? Und wie war das mit dem Erscheinen des Zölibats und der plötzlichen Gründung
     des Ordens der Dalai Lamas?
    Li Mai warf ihm einen koketten Blick zu und strich sich über den Rock. »Willst du etwa behaupten, dass in all dem Chaos noch
     mehr Leute mitgemischt haben?«
    Decker schaute sie nachdenklich an und sagte mit einer kleinen Gänsehaut im Nacken: »Ja. Rom.« Dass er dabei ihren Busen anstarrte,
     merkte er überhaupt nicht.
    Li Mai lachte laut. »Du siehst Zusammenhänge, wo keine sind«, sagte sie und warf ihr Haar zurück.
    »Ich weiß nicht   ...« Decker war fast in Trance. »Religionsgeschichte ist immer für Überraschungen gut. Aber unabhängig davon können wir eines
     feststellen: Der

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