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Das Tibetprojekt

Titel: Das Tibetprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Kahn
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in Tibet
     
    Wenn die Tibeter Neujahr feiern, steht Lhasa völlig auf dem Kopf und alle Werte werden umgekehrt. Die Zustände in der Hauptstadt
     des Schneelandes sind so schlimm, das einige Bewohner Lhasa für die Dauer der Feierlichkeiten sogar ganz verlassen. Die Stadt
     gleicht dem biblischen Sodom und Gomorrah. Die Lamas treiben sich auf den Straßen herum und machen hemmungslos, was sie wollen.
     Sie betrinken sich in aller Öffentlichkeit, sie pöbeln herum und plündern die Läden. Man sieht Mönche, die rauchen und wahre
     Festgelage veranstalten. An allen Ecken sieht man die Geistlichkeit beim Glücksspiel. Auf der Straße und in den Häusern singen
     und tanzen die Lamas im Rausche zahlreicher Drogen. Immer wieder kommt es dabei zu heftigen Schlägereien. Vielerorts finden
     sogar Orgien statt. Dabei vergnügen sich die höchsten geistlichen Würdenträger ausgiebig mit unzähligen Straßenmädchen. Nicht
     selten tragen die sexuellen Exzesse sadistische Züge. Die Mönche scheinen außer Kontrolle zu sein. Man kann sich keine schlimmeren
     Verletzungen der buddhistischen Grundsätze und Klosterregeln vorstellen, als sie in diesen Tagen durch die Verfehlungen der
     Geistlichkeit in der heiligen Stadt geschehen.
     
    »Na sowas.« Decker brauchte nicht lange, um zu verstehen, worauf das hindeutete.
    Li Mai zuckte noch die Schultern. »Klingt wie Karneval |246| . Die Jungs müssen mal Druck ablassen und ein paar Spannungen abbauen.«
    »Guter Vergleich. Nur dass sich hier ein gewaltiger Druck aufbaut und wieder entlädt. Mehr als bei uns oder anderen Gesellschaften,
     die ähnliche Rituale haben. Und mehr als es in einem Kirchenstaat sein dürfte. Ich denke, dahinter steckt mehr.« Decker stand
     auf und machte sich einen
Glenfiddich on the rocks
. »Lies erst mal weiter.«
     
    In all dem Chaos findet aber noch ein eigenartiges Ritual statt. In diesen Tagen wandelt ein eigentümlicher Herrscher durch
     die Straßen der Hauptstadt. Er spielt die zentrale Rolle bei diesen Feierlichkeiten. Man nennt ihn den Sündenbock. Sein Gesicht
     ist halb weiß, halb schwarz bemalt. Er wurde immer schon aus dem Abschaum des Volkes gewählt. Für eine Woche darf er machen,
     was er möchte, sich nehmen, was ihm gefällt, essen und trinken, so viel er kann. Nach Ablauf der Zeit muss er gegen einen
     Mönch im Würfelspiel antreten und diese geliehene Macht und Freiheit einsetzen. Natürlich verliert er alles. Danach wird er
     von allen Bewohnern aus der Stadt gejagt und in die Wüste geschickt. Dabei schreit er: »Was unsere Sinne uns lehren, ist keine
     Illusion. Alles, was die Lamas uns lehren aber ist falsch!« Danach nimmt er Zuflucht in der Kammer der Dämonen eines nahe
     gelegenen Klosters. Dort wurde er in den alten Zeiten für seine Verbrechen umgebracht.
     
    »Sagenhaft«, entfuhr es Decker, »wir haben, wonach wir so lange gesucht haben: einen klaren Hinweis. Und was für einen.«
    Li Mai schaute Decker ratlos an. »Ich weiß nicht recht, was du meinst.«
    |247| »Dieser Sündenbock«, sagte Decker, »steht zwischen dem alten und dem neuen Tibet. Er verrät uns, was normalerweise hinter
     den gesellschaftlichen, religiösen und kulturellen Kulissen verborgen bleibt. Er lebt in der Zone zwischen zwei Welten, wo
     die Institutionen und Bräuche nicht länger funktionieren, daher die Farben schwarz und weiß.« Decker dachte einen Augenblick
     nach und nippte an seinem Whisky. »Ich verstehe dieses Neujahrsfest so, dass die Tibeter jedes Jahr versuchen, ihren größten
     inneren Konflikt auszutreiben, indem sie diese höchst ambivalente Figur verjagen. Ich vermute, hinter diesem Sündenbock schimmert
     der Schlüssel zum Verständnis der gesamten tibetischen Kultur und Geschichte durch.«
    Li Mai nickte und sah ihn aufmerksam an. Es war klar, dass sie jedes Wort, das er jetzt sagte, in ihren Bericht schreiben
     würde. »Sprich weiter«, sagte sie und berührte leicht seine Hand.
    Decker war wie in Trance. »Ich weiß, es widerspricht allem, was wir zu wissen glauben«, sagte er mit geschlossenen Augen.
     »Aber ich denke, der Sündenbock verrät folgendes: Im Grunde ihrer Seele und ihres Herzens haben die Tibeter niemals diese
     sonderbare Religion aus Indien akzeptiert. Niemals.«
    Li Mai blies Luft durch die Zähne. Decker fuhr fort: »Eine Religion, die dem Wesen der alten Tibeter vollkommen fremd war,
     weil sie ihnen weismachen wollte, dass die Welt der Sinne nur eine flüchtige Illusion sei. Sie wehren sich

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