Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Tibetprojekt

Titel: Das Tibetprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Kahn
Vom Netzwerk:
biss genüsslich ein Stück Schoko
     ab und redete mit vollem Mund weiter. »Aber um auf die alten Buddhisten zurückzukommen: Wir wissen zum Beispiel, dass sie
     anfingen, hinduistische Gottheiten wie Mahakala-Shiva bei sich aufzunehmen. Buddha war plötzlich nur noch ein Gott unter vielen.
     Es wurde ein Konzept vom ›Absoluten‹ entworfen. Die heilige Silbe ›Om‹ tauchte jetzt erstmals auf.«
    »Die sich bis heute in dem tibetischen Mantra
Om mani padme hum
erhalten hat?«, fragte Li Mai.
    »Die ist es«, antwortete Long Chang. »Und es gab noch |268| mehr Kuriositäten. Die hinduistischen Tantriker und Yogameister unternahmen große Anstrengungen, sich mit dem Unfassbaren,
     dem Absoluten zu vereinigen. So ähnlich wie eure christlichen Mystiker im Mittelalter. Nur dass dies die Quelle für die sexuelle
     Seite des tibetischen Buddhismus ist. Denn die Tantriker waren nicht abstinent wie die europäischen Mönche, sondern suchten
     in der mystischen Vereinigung mit Frauen die Erleuchtung und das Nirwana.«
    Decker konnte nicht anders und warf Li Mai einen Seitenblick zu, dem sie ohne weiteres standhielt.
Asien,
dachte er. Dann wandte er sich wieder zum Bildschirm. »Von dieser tantrischen Seite des tibetischen Buddhismus ist bei uns
     aber wenig bekannt.«
    »Na, die Jungs sind doch nicht blöd. Stellen Sie sich vor, was das für ein Aufschrei des Entsetzens wäre: Sex als Teil des
     Buddhismus!« Long lachte vergnügt und hielt ein aufgeschlagenes Buch vor die Kamera. Man sah zwei Götter beim Kopulieren.
     »Sehen Sie sich das an! Das hier zum Beispiel ist ein Yamantaka. Ein Mann und eine Frau vereinigen sich.« Er grinste. »Wenn
     Sie so eine Statue mal in echt sehen, werden Sie feststellen, dass gewisse Details sehr naturgetreu dargestellt werden.«
    »Das heißt, die buddhistische Lehre wurde in Kaschmir und Tibet auch inhaltlich stark verändert«, resümierte Decker.
    »Richtig, seit Kaschmir gibt es all die bis heute typischen Zauberformeln, Meditationstechniken und die Magie im Buddhismus.
     Deshalb nennt man die neue Lehre Vajrayana-Buddhismus. Übersetzt heißt das soviel wie das Diamantfahrzeug. Und der berühmteste
     Vertreter der neuen Lehre in Kaschmir war damals der düstere Großmeister Padmasambava.«
    |269| »Den Schrongtsam Gampo zu sich rief«, sagte Li Mai.
    »Ja. So kam der Vajrayana-Buddhismus nach Tibet.«
    »Und hier stieß er mit dem Bön zusammen«, ergänzte Decker.
    »So war es. Im Laufe der Jahrhunderte ging der Buddhismus im Bön auf. Wie eine Brausetablette im Wasser. In den Stürmen der
     Kriege und der Anarchie degenerierte das Vajrayana völlig und nahm die Form an, die Sie heute kennen, mit all seinen Bön-Symbolen
     und Instrumenten. Das beste Beispiel ist der Donnerkeil, der eindeutig schamanischen Ursprungs ist.«
    »Der Donnerkeil?« Decker wurde sehr aufmerksam.
    »Ja. Oder auch Purba genannt. Hier, ich zeige Ihnen ein Foto. Ein gefährliches Instrument, das ursprünglich zum Bön gehörte
     und heute Teil des tibetischen Buddhismus ist.«
    Decker und Li Mai sahen einen langen Dolch mit einem verzierten Griff. Auf dem Griff waren allerlei Totenköpfe und Tiergestalten.
     Und ein rechtsdrehendes Hakenkreuz. Die Klinge hatte drei Kanten.
    »Dieser Dolch wurde früher möglicherweise tatsächlich zum Töten von Menschenopfern eingesetzt. Heute ist es wohl nur noch
     ein Ritualgegenstand.«
    Li Mai durchzuckte es. »Augenblick, Herr Professor.« Sie schaltete das Mikro ab und drehte sich zu Decker. »Die Mordwaffe
     hatte auch drei Kanten. Wir haben dem keine Bedeutung beigemessen, weil wir damit nichts anfangen konnten. Aber jetzt ergibt
     das einen Zusammenhang.«
    »Das Opfer auf unserem Foto wurde also mit einem Purba umgebracht?«, fragte Decker.
    »Genau. Noch ein Hinweis auf die alte Religion. Genau wie das Hakenkreuz.«
    |270| Li Mai und Decker blickten wieder in die Webcam und schalteten ihre Mikros ein. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Fahren
     Sie bitte fort.«
    »Keine Ursache.«
    Decker dachte einen Moment nach und sagte dann: »Wie sieht es eigentlich mit den heiligen Schriften in Tibet aus?«
    »Der Kangür«, sagte Long Chang.
    »Ja, so heißt er wohl. Ich habe davon gelesen. Es ist der Kanon des tibetischen Buddhismus. Das schriftliche Fundament der
     gesamten Religion. Ihre Bibel sozusagen. Der Dalai Lama beruft sich darauf.«
    »Da sollte er vorsichtiger sein. Der Kangür wurde überhaupt erst im 14.   Jahrhundert geschaffen. Bis dahin war schon

Weitere Kostenlose Bücher