Das Tibetprojekt
meine lieben Freunde, ist die Antwort auf viele |265| Fragen und manches Rätsel der Weltgeschichte. Dieser rote Faden zieht sich durch die Entwicklung der Philosophie, der Wissenschaften,
der Kultur und der Religion. Wir kennen ihn vor allem als Handelsweg und Karawanenroute von China durch Innerasien zum Mittelmeer.«
»Die Seidenstraße!«, sagte Li Mai mit einer gewissen Ehrfurcht in ihrer Stimme.
Der Professor nickte. »Ja. Und über diesen jahrtausendealten Handelsweg mit seinen Verzweigungen wurden nicht nur Waren transportiert.
Auch Marco Polo kam über die Seidenstraße nach Kara Korum. Es dürften sicher auch so manche eifrige unbekannte Missionare
dort entlanggewandelt sein. Mit den Karawanen zusammen oder in stiller Einsamkeit. In beide Richtungen. Die Apostel hatten
ja schließlich den Auftrag, das Christentum zu verbreiten.«
Li Mai fiel dem Professor ins Wort. »Sie meinen, es bestand ein reger Austausch nicht nur von Gütern, sondern auch von Ideen
zwischen Europa und Asien?«
»Wundert Sie das? Die Jungs wussten natürlich voneinander und haben feste abgeschrieben, wenn ihnen was gefallen hat. Selbst
Plato kann die Inspiration für sein berühmtes Höhlenbildnis aus Indien bezogen haben.«
C.G. Jung mit seinem kollektiven Unbewussten und die anderen Esoteriker mit ihren Archetypen haben das wohl übersehen,
dachte Decker bei sich.
»Aber das Wissen floss in beide Richtungen. Hier, sehen Sie sich das mal an«, fuhr der Religionswissenschaftler fort, »der
sogenannte Buddha von Hoti Mardan. Er kommt aus der Kunstschule von Gandhara im Kuschana Reich, direkt neben Kaschmir.« Der
Gelehrte zeigte ein Bild von einer Statue. Es zeigte einen sitzenden |266| Buddha, in ein Gewand gehüllt. »Bemerken Sie was?«
Wieder schauten Decker und Li Mai gebannt auf den Monitor. »Nein.«
»Beachten Sie den Faltenwurf des Gewands. Jeder Experte wird Ihnen sagen, dass es der klassische griechische Stil ist. Die
Leute halten es gern für ein Wunder, wenn die gleiche Idee an verschiedenen Orten auftaucht. Aber wenn Sie auf eine Landkarte
schauen, dann sehen Sie, dass jeder von jedem wusste. Keine Zauberei.«
»Und was war nun mit all den Christen in Kaschmir?«, fragte Decker.
»Ach ja, eine spannende Frage. Aber wir kommen etwas weit ab vom Thema.«
»Nein bitte, das interessiert mich sehr.« Li Mai sah Decker verdutzt an und fragte sich, was daran so wichtig sein könnte.
»Also gut. Vor allem waren die Nestorianer in dieser Gegend vertreten.«
Li Mai und Decker sahen den Professor fragend an.
»Das war eine christliche Sekte, die im 5. Jahrhundert von Nestorius, dem Patriarchen von Konstantinopel, gegründet wurde. Sie wurde aber wegen Verbreitung von Irrlehren
vertrieben. Heute gibt es sie nicht mehr. Aber sie drang weit bis Asien vor. Es gab Missionen in Turkestan, entlang der nördlichen
Grenze von Tibet und in der Mongolei. In der chinesischen Provinz Sinkiang hat man eine Stele aus dem Jahr 779 gefunden.«
»Erstaunlich«, bemerkte Li Mai nachdenklich.
»Dann gab es da noch die Manichäer. Diese Religion wurde im 3. Jahrhundert von Mani, einem Babylonier, gestiftet. Es ist eine Mischung aus christlichem und altpersischem Glauben. Er endete
später am Kreuz, ebenfalls |267| wegen Verbreitung von Irrlehren. Seine Anhänger wurden verfolgt und verjagt, aber so bis ins 14. oder 15. Jahrhundert haben sie wohl irgendwo im Osten überlebt. Da fällt mir ein, es gibt Forscher, die meinen, dass Elemente des Manichäismus
durchaus auch über Kaschmir in den Mahayana aufgenommen wurden und vielleicht sogar direkt in den tibetischen Buddhismus gelangten.
Es gibt auch Gerüchte, dass in Tibet rätselhafte Höhlenbilder existieren mit Lamas in weißen Mützen. Und Weiß war die Farbe
der Manichäer.« Der Mann aus Stanford schaute seine Zuhörer an. »Hey, Phil, hören Sie noch zu?«, kam die Stimme aus dem Lautsprecher.
»Sorry. Mir kam nur gerade ein Gedanke«, sagte Decker.
»Kaschmir war also im sogenannten Mittelalter eine Art Jahrmarkt der Heilsgüter«, fuhr der Experte fort. »Wer wollte, konnte
sich bei den Lehren von Jesus, Wischnu, Mohammed, Zarathustra, Buddha und all den anderen bedienen.« Er griff nach einem Schokoriegel.
»Was immer man wollte, es war alles vor Ort. Über tausend Jahre lang. Und es wurde feste getauscht an dieser Börse. Früher
war es wohl eine tolerante Zone, heute schlagen sie sich in Kaschmir leider die Köpfe ein.« Er
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