Das Tier
zuende und die Dienerschaft kehrte zurück.
Thars summte leise vor sich hin. Ob es heute Kuchen geben würde? Oder Plätzchen? Die Köchin hatte ein Händchen für hauchfeines Buttergebäck, gesagt hatte sie noch nichts, auch nichts vorbereitet. Der Lammbraten, der im Ofen schmorte, duftete dafür bereits verführerisch.
Hm, dieser Jemand im Haus war wohl doch eher ein Patient. Thars kannte ihn nicht und ihm haftete der Geruch von Krankheit und Laudanum an.
Marwin hatte inzwischen die Küche verlassen, während Cyrian nach der Zuckerdose suchte.
Thars öffnete langsam die Augen. Der Fremde … Das war ein Dieb! Er befand sich in Doktor Leromes Behandlungsraum. Da, jetzt hatte er den Schrank aufgebrochen, in dem sich die starken Betäubungs- und Schmerzmittel befanden.
Er witterte Cyrians Erschrecken. Der junge Mann hatte etwas gehört.
„Brudfor, nein!“ Thars taumelte auf die Beine, die er mehr als eine Woche lang kaum benutzt hatte.
Der Dieb wusste es. Er wusste, dass er gehört worden war und packte sich eines der Behandlungswerkzeuge. Gestank breitete sich aus. Er würde Cyrian töten.
Brudfor, nein …
Noch während Thars’ Verstand im roten Zorn verbrannte, spürte er, wie er durch die Hausmauer brach, als wäre sie ein dünner Papiervorhang.
Wie gelähmt starrte Cyrian auf Thars, der den Einbrecher mit einem einzigen gezielten Schlag in den Nacken getötet hatte. Es war allerdings nicht der fremde Mann, der mit gebrochenen Augen ins Nichts blickte, der Cyrian so erschreckte, sondern die Tatsache, dass das Tier nun Marwin anvisierte. Der schweigsame, stets hilfsbereite Assistent des Doktors stand in der Küchentür, ein armlanges Messer in der Hand. Die beiden fixierten einander. Thars kauerte wie ein wildes Biest am Boden und knurrte drohend. Seine sonst so freundlichen Augen hatten jede Menschlichkeit verloren, die Gesichtszüge waren bis zur Unkenntlichkeit verzerrt vor Wut.
„Cyrian, raus!“, wisperte Marwin.
Diese Worte brachten ihn endlich zur Besinnung. Ohne zu zögern warf Cyrian sich vor Thars zu Boden und blockierte dessen Blick auf Marwin.
„Du bist kein Tier!“, flüsterte er. „Tief in dir drinnen steckt ein Mensch. Komm zurück, Thars! Du hast mein Leben gerettet – glaub ich. Das genügt! Du musst mich doch nicht vor Marwin beschützen, der hat dir mit dem Bein geholfen und dich seit Tagen mitversorgt!“
War da ein Flackern in den Raubtieraugen?
Grollend packte Thars ihn und schob ihn zur Seite, um freien Blick auf Marwin zu haben. Warum nur? Marwin war kein Mörder, sonst läge seine Leiche bereits neben der anderen am Boden. Dennoch schien Thars eine Gefahr in ihm zu wittern. Vielleicht weil Marwin dieses Messer in der Hand hielt, bereit, sich und Cyrian damit zu verteidigen?
Brudfor, was soll ich tun?, dachte Cyrian hilflos. Er konnte Thars nicht angreifen. Wie auch? Das wäre, als würde eine Fliege gegen einen Kampfhund antreten.
Hoffentlich kam jetzt nicht der Doktor zurück, dann würde jeder Thars sehen. Wie lange dauerte der Gottesdienst?
Gottesdienst – Chor – das ist es!
Er hatte schon einmal gesungen, um das Tier zu besänftigen. Gut, da war es nicht im Blutrausch gewesen, aber trotzdem!
„Schöpfer der Welt und des Lebens, höre unsre Klage …“, begann Cyrian das einzige ihm bekannte Lied, in dem es nicht um Wein, Schnaps oder Frauen ging. Seine Stimme war erbärmlich piepsig. Das klang eher nach verängstigter Maus als einen Engel, den es hier gerade brauchte. Marwin glotzte ihn an, er dachte bestimmt, Cyrian hätte den Verstand verloren. Das Tier richtete seine Aufmerksamkeit nun ganz auf ihn. Da war es wieder, das Flackern, diesmal war Cyrian sich sicher. Das Grollen verstummte, während er die Fürbitte an Brudfor sang. Und von vorn begann, da er bloß die ersten beiden von vierundzwanzig Strophen auswendig konnte. Vielleicht hätte er häufiger in die Kirche gehen sollen statt im stillen Kämmerlein mit Brudfor zu feilschen!
Thars’ Gesichtszüge wurden weicher. Ja, es war eindeutig ein Mensch, der auf Cyrian niederblickte, keine Bestie mehr. Als er Tränen über Thars’ Wangen rinnen sah, wusste er, er hatte es geschafft. Sicherheitshalber sang er den Refrain noch einmal und verstummte abrupt, da Thars ihn in seine Arme riss, sich an ihm festklammerte und haltlos zu weinen begann.
Jetzt musste Cyrian sich lediglich etwas ausdenken, wie er den Toten und das Loch in der Küchenmauer erklären sollte, vielleicht würde dann alles
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