Das Tier
Straßenratte, die jeder nach Belieben misshandeln darf.“
Cyrians Mutter war nüchtern gewesen, als sie diese Worte sprach. Zum ersten und letzten Mal, solange Cyrian sich erinnern konnte. Vom nächsten Tag an hagelte es wieder Beschimpfungen und Schläge.
Kaum jemand wäre in der Lage gewesen, ihre Worte umzusetzen. Cyrian war stark genug. Bereits zuvor hatte es in seiner Natur gelegen, die Welt zu lieben und in allem das Gute und Schöne zu sehen. Auf irgendeine Weise war es ihm gelungen, so zu bleiben und tatsächlich genoss er es, Sex zu haben. Sich selbst dafür zu verachten, dass er käuflich war und zugleich stolz darauf zu sein, Männern dienen zu dürfen. Ein Phänomen …
„Thars? Ah, da bist du.“
Cyrian kam zu ihm gehüpft. „Der Doktor und alle anderen gehen zum Gottesdienst. Marwin bleibt hier, falls ein Notfall passiert, und ich bleibe auch bei dir.“
„Du brauchst dich nicht zu sorgen. Geh ruhig mit den anderen“, sagte Thars rasch.
„Nein, ich will lieber heute Abend allein in die Abendmesse gehen. Ich hab da was mit Brudfor zu regeln …“ Cyrian wurde flammend rot. Thars konnte wittern, dass der junge Mann an Geld dachte, an ein Versprechen, das er Brudfor gegeben und noch nicht erfüllt hatte.
Cyrian setzte sich auf eine Holzbank unter einem Baum und erzählte von all dem, was er in den vergangenen Tagen für Doktor Lerome getan und von ihm gelernt hatte. Seine Stimme, seine Lebendigkeit war Balsam für Thars’ Seele.
„Ich wünschte, ich könnte lesen!“, stieß Cyrian irgendwann sehnsüchtig hervor. „Der Doktor hat keine Zeit, es mir beizubringen, aber ohne Bücher werde ich niemals mehr lernen als Hilfsarbeiten und Anreichungen.“
„Du möchtest ein Arzt werden?“ Thars lächelte, als Cyrian zu strahlen begann. Mittlerweile verblassten die Prellungen in seinem Gesicht und verbargen nicht mehr länger seine engelhafte Schönheit. Ja, Cyrian wäre ein guter Arzt, jemand, der sich mit ganzem Herzen und all seiner Leidenschaft für die Kranken einsetzte. Es schmerzte ihn körperlich, als das Strahlen verging und Cyrian den Kopf hängen ließ.
„Ich kann ja noch nicht einmal meinen eigenen Namen schreiben. So kann ich nicht Arzt werden.“
„Hol ein Buch“, sagte Thars spontan. „Egal welches. Ich kann lesen und habe jede Menge Zeit. Wenn der Doktor zurück ist, bitten wir ihn um Papier und Schreibgriffel. Heute Abend wirst du Brudfor erzählen, dass du deinen Namen schreiben kannst!“
Oh gütiger Schöpfer, vom lieblichen Duft reinster Dankbarkeit konnte man süchtig werden! Cyrian fiel ihm um den Hals und rannte dann ins Haus zurück.
Noch keine volle Minute später hockte er fiebernd vor Anspannung neben Thars und ließ sich die einzelnen Buchstaben erklären.
Thars war kein Lehrer und er erinnerte sich nicht daran, wie er selbst zu lesen gelernt hatte. Da er nicht wusste, wie man es am besten anging, buchstabierte er ihm mehrere Sätze, las ihm den Text vor – es war ein Kochbuch, sie lernten gerade beide mehr über die Kunst des perfekten Hefeteigs, als Thars je wissen wollte – und ließ ihn anschließend kleine, häufig vorkommende Wörter suchen. Mit Feuereifer forschte der Süße jedem ,und‘, ,der, die das‘ und ,man‘ nach, bis Thars merkte, dass ihm die Konzentration schwand.
„Geh und hol uns beiden etwas zu trinken“, forderte er, wissend, dass Cyrian nicht freiwillig aufhören würde.
„Oh, entschuldige, ich hab gar nicht nachgedacht, wie anstrengend das für dich sein muss.“ Mit erschrockener Miene sprang Cyrian auf und flitzte ins Haus zurück. Thars hatte ihm kein schlechtes Gewissen aufzwingen wollen, doch wenn er ehrlich war, fühlte er sich tatsächlich angestrengt. So viel zu reden, zuhören, sich auf einen Menschen konzentrieren, das überforderte seinen Geist, der monatelang im finsteren Nichts eingesperrt gewesen war. Seufzend lehnte er sich zurück, hielt das Gesicht in die Sonne, die Augen geschlossen. Nicht an den Kerker denken, es genügte, wenn er ihn nachts in seinen Träumen heimsuchte. Sich treiben lassen, bemüht, die Sinne auszublenden, so wie Doktor Lerome es ihm erklärt hatte. Nur die schönen und interessanten Gerüche zulassen, statt von der ganzen Welt überflutet zu werden.
Sein Süßer gehörte zu diesen interessanten und wirklich schönen Gerüchen. Cyrian sprach gerade mit Marwin, während er Zitronen auspresste, um Limonade zuzubereiten.
Da war noch jemand im Haus. Anscheinend war der Gottesdienst
Weitere Kostenlose Bücher