Das Titanic-Attentat
Bestenfalls. Ebenso gut könnte sie von Daniel Guggenheim ausgeschmückt oder gar erfunden worden sein. So konnte Benjamin Guggenheim beispielsweise dem Steward in dem Rettungsboot kaum zugewinkt haben. Denn »Etches verließ die
Titanic
bereits um 0.55 Uhr in Boot Nr. 5 zu einem Zeitpunkt, in dem Guggenheim mit größter Wahrscheinlichkeit noch nicht an Deck war, und wenn doch, dann kaum auf dem vorderen Teil des Bootsdecks«. [191] Demnach wäre also das ganze schöne Guggenheim-Epos ein Schwindel.
Der Steward Henry Samuel Etches wurde am neunten Tag der amerikanischen Untersuchung befragt, also am 27. April 1912. Er sei für Herrn Guggenheim und dessen Sekretär in Kabine 84 zuständig gewesen, berichtete Etches da. Als der Zusammenstoß kam, habe er geschlafen. Er sei durch »irgendetwas« geweckt worden und habe sich bei seinen Zimmergenossen nach der Uhrzeit erkundigt. Da keine Antwort kam, habe er sich umgedreht, um weiterzuschlafen, doch da hörte er den Ruf: »Alle wasserdichten Schotten schließen!« Er habe dann Schwimmwesten an die Passagiere verteilt und auch beim Anlegen derselben geholfen:
Senator SMITH : Was war mit Herrn Guggenheim, seinem Sekretär und anderen?
Mr. ETCHES : Sie waren in ihrer Kabine. Ich nahm die Schwimmwesten heraus. Die Schwimmwesten waren in der Garderobe, einem kleinen Regal, und die Kabine war nur von zwei Personen bewohnt. Es gab drei Schwimmwesten dort, ich nahm sie heraus und zog eine Herrn Guggenheim an. Er war offenbar gerade in seine Kabine gegangen, denn er öffnete beim ersten Klopfen. Er sagte: ›Das wird weh tun‹. Ich sagte: ›Sie haben viel Zeit, ziehen Sie etwas an, ich bin in ein paar Minuten zurück.‹
Senator SMITH : Kamen Sie zurück?
Mr. ETCHES : Ja, Sir.
Senator SMITH : War er da? [192]
Ja, antwortete Etches. Guggenheim sei da gewesen und ihm gefolgt, als er anschließend zu anderen Kabinen gegangen sei. Ja, und dann? Nichts »und dann«. Hier enden die Aussagen Etches über Guggenheim vor dem Untersuchungsausschuss: keine Damen der zweiten Klasse in den Rettungsbooten, keine festliche Abendkleidung, kein gentlemanliker Untergang, keine letzte Nachricht an die Gattin – gar nichts. Weder wird Etches nach den weiteren Umständen von Guggenheims Tod gefragt, noch erzählt er von selbst vor dem Untersuchungsausschuss etwas darüber. Stammten diese heroischen Geschichten also tatsächlich gar nicht von ihm, sondern von Guggenheims Bruder Daniel? Und die angebliche Nachricht an die Gattin auch? Es fällt schließlich auf, dass die Nachricht absolut nichts Persönliches enthält. Was heißt: »Sagen Sie meiner Frau in New York, dass ich alles getan habe, um meine Pflicht zu erfüllen«? Diesen nichtssagenden Inhalt könnte sich jeder ausgedacht haben.
Schließlich wäre da noch eine Kleinigkeit, die in der schönen Geschichte vom pflichtbewussten Ehemann, der der trauernden Gattin eine letzte Nachricht zukommen lässt, nicht vorkommt. Guggenheim war eine ähnliche Medienfigur wie Astor mit seiner jungen, schwangeren Frau Madeleine. Sein Sekretär und sein Chauffeur waren keineswegs die einzigen in Guggenheims Entourage. Sondern da wären noch seine 24-jährige Geliebte Léontine Pauline Aubart (auch »Ninette« genannt) und deren Dienerin Emma Sägesser.
Am 14. April seien sie und ihre Dienerin um 23 Uhr zu Bett gegangen, heißt es in der
Encyclopedia Titanica
. Emma sei sofort eingeschlafen, aber wenig später durch zwei kurze Stöße aufgewacht. Während sie im Bett geblieben sei, habe Madame Aubart recherchiert, was passiert sei. Sie sei sehr ruhig zurückgekommen und wieder ins Bett gegangen. Wie es weiterging, kann man in Günter Bäblers Buch
Reise auf der Titanic
nachlesen. Ein Steward habe schließlich die beiden Frauen gebeten, die Schwimmwesten anzuziehen und sich zu den Booten zu begeben. Zuerst gingen sie jedoch zu den Backbordkabinen B-82, B-84 und B-86, wo noch immer Guggenheim und sein Sekretär Giglio schliefen. Der habe Sägesser ausgelacht: »Eisberg? Na und? Was ist schon ein Eisberg?«
Demzufolge waren es die beiden Frauen, die die Männer überredeten, »sich anzuziehen und mit an Deck zu kommen. Während die Männer sich ankleideten und ihre Gesichter puderten, riskierten die jungen Frauen Blicke in die offen stehenden benachbarten Kabinen.« [193] In dieser Version kommt der Steward an der Stelle überhaupt nicht vor. Sondern dem zufolge waren es Guggenheims Geliebte Aubart und deren Dienerin Sägesser, die
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