Das Titanic-Attentat
Sinne, in dem auch die Mafia als »ehrenwerte Gesellschaft« bezeichnet wird. Sie alle waren bei dieser Fahrt gewissermaßen Gäste ihres großen Paten – wie die meisten Reichen in Amerika auf die eine oder andere Weise mit ihm geschäftlich verstrickt.
Fast sah es aus wie eines von Morgans legendären Meetings, bei denen er seine Verhandlungspartner einzusperren pflegte, bis eine Einigung in seinem Sinne erzielt worden war – nur dass der Pate diesmal nicht erschien. Schließlich wirkt die Zusammensetzung der Reisegesellschaft alles andere als zufällig. Wie kam es zum Beispiel, dass sich ausgerechnet die drei oder vier reichsten Männer Amerikas an Bord befanden, umgeben von zahlreichen weiteren Multimillionären, die häufig aus denselben Geschäftszweigen stammten wie Morgan (Banken, Eisenbahnen, Stahl etc.)? Die
Olympic
hatte bei ihrer Jungfernfahrt kein vergleichbares Publikum an Bord. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Morgan seine Geschäftspartner mit einem Schiff kidnappte. Waren sie wirklich zufällig hier, oder gab es eine bis heute unbekannte Einladung Morgans?
Die meisten hatten ihr Vermögen ähnlich skrupellos gemacht wie J. P. Morgan. Die Astors zum Beispiel versorgten Gustavus Myers zufolge die Indianer Nordamerikas gnadenlos mit Schnaps, um sie um ihre Pelze und ihr Land zu betrügen, und schreckten dabei vor keinem Gesetzesbruch und keiner Gewalttat zurück. Zum Schutz der Astorschen Geschäfte sei immer wieder die Armee mobilisiert worden, um die »Indianerrebellionen« niederzuschlagen, heißt es bei Myers. Später wurden die Astors demnach durch rücksichtslose Immobilienspekulationen zu den größten Grundbesitzern New Yorks. »Das Unglück anderer«, so Myers, »war Astors Gewinn.«
Die Guggenheims wiederum hätten ihr Minen- und Hüttenimperium mit eiserner Faust geführt und ihre Arbeiter bis aufs Blut ausgebeutet. Bei Streiks nahmen die Auseinandersetzungen zwischen den Arbeitern und ihren Gewerkschaften und den von den Guggenheims angeheuerten bewaffneten Einheiten bürgerkriegsähnliche Züge an. Obwohl Benjamin Guggenheim aus der Familienfirma ausgestiegen war, war er immer noch geschäftlich aktiv. Inwieweit hatte sich das
Titanic
-Opfer Benjamin Guggenheim selbst mächtige Feinde gemacht?
J. P. Morgan hatte die Fahrt wie gesagt »aus gesundheitlichen Gründen« unerwartet abgesagt. Wobei sich interessanterweise herausstellt, dass Morgan in Wirklichkeit nie vorhatte, mit der
Titanic
zu reisen. Am 13. April 1912, drei Tage nachdem sie in Southampton abgelegt hatte, wurde der umtriebige Finanztycoon in Florenz gesichtet, wo er offenbar wichtige Geschäfte zu erledigen hatte. So erwarb der passionierte Kunstsammler dort ein wertvolles Gemälde, von dem man in Florenz annahm, dass es sich um die am 21. August 1911 im Pariser Louvre gestohlene
Mona Lisa
handle. Was erstens bedeutete, dass man Morgan einfach alles zutraute. Zweitens war die
Mona Lisa
wirklich von einem Italiener gestohlen worden, der tatsächlich versuchte, das Bild in Florenz zu verkaufen, allerdings erst ein Jahr später (an die Uffizien). Nach entsprechenden Gerüchten in der lokalen Presse, er sei im Besitz der gestohlenen
Mona Lisa,
wurde Morgan von einer aufgebrachten Menge auf den Bahnhof verfolgt, wo der 74-Jährige sich und seiner Schwester den Weg äußerst vital mit seinem Spazierstock freikämpfte.
Am 17. April 1912 wollte Morgan im französischen Seebad Aix-les-Bains seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag feiern, zufällig der Tag, an dem der Untergang der
Titanic
offiziell bestätigt wurde. Hat sich Morgan damit etwa selbst ein Geburtstagsgeschenk gemacht? Wie auch immer: »Der
New-York-Times-
Korrespondent, der J. P. Morgan in Aix die Glückwünsche der Zeitung zu seinem 75. Geburtstag überbringen wollte, fand den Finanzier bei exzellenter Gesundheit vor«, konnte man am 18. April 1912 in dem Blatt lesen. »Niemand käme auf die Idee, dass der rüstig aussehende Mann mit dem klaren, kritischen Blick des Kenners seinen 75. Geburtstag begehen würde … Nach seinem Urlaub in Ägypten sah Mr. Morgan blendend und braun gebrannt aus«, und bewohnte dieselben Zimmer im Grand Hotel »wie immer in den letzten 18 Jahren«. »Wie immer in den letzten 18 Jahren?« Tatsächlich verbrachte J. P. Morgan jedes Frühjahr einige Zeit in Aix. »Er kommt dort fast immer am selben Tag, zur selben Stunde mit demselben Zug an. Er bleibt drei Wochen und reist immer am selben Tag, zur selben
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