Das Titanic-Attentat
Portsmouth am Spithead, ihr uneinnehmbares Hauptquartier angelegt hat.
Vor den Blicken und dem Zugriff des Feindes ebenso geschützt wie vor den Wassern und Winden des offenen Kanals gingen hier traditionell die Kriegsschiffe der Royal Navy vor Anker. Mitunter nahm hier die gesamte Flotte Aufstellung, etwa 1897 beim diamantenen Kronjubiläum von Königin Victoria. Wenn Portsmouth das Nest der Navy ist, dann ist der Spithead quasi der Vorgarten der britischen Kriegsmarine.
Hier also zuckelte der in Wirklichkeit amerikanische Dampfer
Olympic,
bis zur Fertigstellung der
Titanic
das größte und modernste Schiff der Welt, am Morgen des 20. September 1911 vorsichtig und von einem Lotsen geführt entlang, als ihr plötzlich der Navy-Kreuzer
Hawke
in die Quere kam. Die
Hawke
vollführte ein seltsames Manöver. Während sie von hinten aufschloss, fuhr sie an die Steuerbordseite der
Olympic,
obwohl ihr Heimathafen Portsmouth an Backbord lag. Wollte sie die
Olympic
etwa überholen, um den beschleunigenden Giganten anschließend vor dem Bug nach Backbord zu schneiden? Kaum vorstellbar, denn das wäre grob verkehrswidrig gewesen. So ließ der Kapitän der
Hawke,
William Frederick Blunt, seinen Kreuzer stattdessen zurückfallen, anscheinend, um hinter dem Heck der
Olympic
nach Backbord zu drehen. Doch statt abzuwarten, bis der Riesenliner ein ordentliches Stück voraus gefahren sein würde, drehte die
Hawke
zu früh nach Backbord und donnerte in das Heck der
Olympic
hinein.
Donnerwetter – was für eine Stümperei! Nichts da: Ein bedauerlicher Unfall, versteht sich. Glaubt man den Schilderungen von Blunt, erinnerten die Ereignisse an Bord der
Hawke
zu diesem Zeitpunkt eher an einen Charlie-Chaplin-Film oder an eine Folge der Serie
Pleiten, Pech und Pannen
als an die Brücke eines Kreuzers Ihrer Majestät. Demnach wollte die
Hawke
gar nicht nach Backbord am Heck der
Olympic
vorbei fahren, sondern nach Steuerbord Richtung Isle of Wight ausweichen, um dem Ozeanriesen Platz zu machen. Dabei habe der Steuermann der
Hawke
aber das Kommando falsch verstanden und stattdessen abrupt nach Backbord, auf die
Olympic
zu, gedreht.
Nun ist der Steuermann eines Kriegsschiffes natürlich kein Anfänger, der bisweilen noch die Seiten verwechselt. Außerdem musste er die
Olympic
ja auch auf seiner Backbordseite sehen. Man kann schon aus rein optischen Gründen kaum offenen Auges in ein solches Hindernis hineinsteuern. Aber dennoch habe er gedreht, woraufhin nun Kapitän Blunt wie ein Fahrlehrer in der zweiten Fahrstunde geschrien habe: »Was machen Sie denn da!« Und: »Volle Kraft zurück Richtung Steuerbord!« Doch siehe da: Wie es der Teufel – oder wer auch immer – so wollte, habe nun zu allem Überfluss auch noch das Ruder der
Hawke
geklemmt, so dass man die Fahrtrichtung nicht mehr korrigieren konnte.
Darüber hinaus, so die spätere offizielle Version, sei die immerhin 110 Meter lange und 8000 Tonnen schwere
Hawke
zusätzlich vom »Sog« der beschleunigenden
Olympic
angesaugt worden. Tja – da war natürlich nichts mehr zu machen: Die
Hawke
rauschte geradewegs in die hintere Steuerbordflanke der
Olympic
und riss ein riesiges, acht mal drei Meter großes Loch in den neuen Ozeanliner.
Nun hätte man nach dem Unfall natürlich schleunigst das Ruder der
Hawke
untersuchen müssen. Doch daraus wurde nichts, denn kurz nach dem Vorfall verflüchtigte sich die Fehlfunktion erstaunlicherweise ebenso plötzlich, wie sie gekommen war. Auf einmal funktionierte die Steueranlage der
Hawke
wunderbarerweise wieder fehlerlos, so dass man die Störung später nicht mehr nachvollziehen (und damit auch nicht beweisen) konnte. Ergebnis:
Der nagelneue White-Star-Liner
Olympic
war schwer angeschlagen und ankerte mit abgesacktem Heck über Nacht im Spithead.
Die Reise von über 1300 zahlenden Passagieren nach New York wurde abgesagt.
Der wirkliche Verdienstausfall würde aufgrund der langwierigen Reparaturen jedoch weit höher liegen.
Mit voller Wucht rammte der Bug des Navy-Kreuzers
Hawke
(links) [9] in den Rumpf der
Olympic
[10] – der Beginn des Krieges zwischen britischer Navy und der White Star Line
»Nachdem die
Olympic
ins Trockendock gefahren worden war, waren Pirrie und Andrews vom Ausmaß der Risse in ihrer Hülle geschockt«, so Chatterton und Kohler. »Der Zusammenstoß mit der
Hawke
würde die White Star Line 250000 Pfund an Reparatur und Verdienstausfall kosten.« 250000 Pfund entsprachen damals etwa fünf Millionen
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