Das Todeskreuz
natürlich sofort gespürt habe. Ja, ich würde
Leslie durchaus einen Mord zutrauen, vielleicht sogar auch drei.
Sie hat sehr viel in ihrem Leben durchgemacht, und ich habe sie
in den vergangenen zehn Jahren heranwachsen sehen. Sie war
fünfzehn, als ich in das Haus ihrer Mutter kam, aber sie hat sich
da schon für alles interessiert. Auch dafür, warum ihre Mutter mit
einem Mal so krank war. Ich habe versucht ihr die Krankheit zu
erklären, aber alle Erklärungen schienen sie nicht zu befriedigen.
Ich weiß auch, dass sie ihre Mutter verachtet und gehasst hat, ich
weiß aber ebenfalls, dass sie über ein enormes Gerechtigkeitsempfinden
verfügt. Und diese beiden Dinge zusammengenommen
können aus einem sonst friedfertigen Menschen einen Mörder
machen. Die Gerüchte, ihre Mutter sei korrupt, haben sie
über mehrere Jahre hinweg wie unsichtbare Schatten begleitet.
Ja, ich traue ihr einen Mord zu. Ich habe in den letzten Tagen viel
darüber nachgedacht, ich habe mich gefragt, ob nicht doch Leslie
etwas damit zu tun haben könnte, und bin immer wieder zu derselben
Antwort gelangt - ja, sie könnte.«
»Und warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«
»Weil Sie mich nicht danach gefragt haben. Es ist Ihre Aufgabe,
die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen«, erwiderte Alina ungewöhnlich
ernst. Sie schien die Fähigkeit zu besitzen, in andere
hineinzuschauen, eine Fähigkeit, die auch Durant gerne besessen
hätte.
»Ich stelle Ihnen jetzt eine weitere Frage, und ich hoffe, es ist
die richtige. Doch vorab muss ich Ihnen etwas aus unseren aktuellen
Ermittlungen mitteilen. Für den Freitagabend hatte sich
Frau Sittler, ich meine Corinna, einen Callboy bei einem Escort-
Service bestellt, wie jeden Dienstag und Freitag. Sie hatte sich
am Nachmittag noch einmal bestätigen lassen, dass der von ihr
gebuchte Mann auch kommen würde. Dann auf einmal rief jemand
beim Escort-Service an und bestellte den Mann ab, angeblich,
weil Corinna sich unwohl fühlte. Die Dame, der der Escort-
Service gehört, schwört Stein und Bein, dass es sich bei der Anruferin
um Corinna handelte, da sie ihre Stimme seit Jahren
kennt. Nun weiß ich aber auch, dass Leslie mit einem Radiomoderator, der zugleich ein begnadeter Stimmenimitator ist, zusammenlebt.
Mein Verdacht fiel natürlich zuerst auf Herrn Mahler,
aber je mehr ich überlegte, desto unwahrscheinlicher erschien es
mir. Und als sie eben von Schwingungen und Energien sprachen,
da ist mir plötzlich was eingefallen. Fragen Sie mich aber nicht,
warum ich gerade in diesem Zusammenhang darauf gekommen
bin. Wenn Leslie Sie angerufen hat, hat sie da wie ihre Mutter
geklungen? Der gleiche Tonfall, die gleiche Melodie in der Stimme,
das gleiche Timbre oder was immer?«
Alina lächelte und sah Durant an. »Sie haben richtig kombiniert,
ich selbst konnte die beiden kaum unterscheiden. Corinnas
Nummer habe ich nie auf dem Display gesehen, weil sie ihre
Nummer unterdrückt hat. Manchmal, wenn Leslie angerufen hat,
habe ich nicht aufs Display geschaut, sondern einfach abgenommen
und immer zuerst gedacht, es sei Corinna, so sehr haben sich
die Stimmen geähnelt. Ich habe Leslie einmal darauf angesprochen,
und andere haben das sicher auch getan. Sie könnte Ihre
Anruferin gewesen sein. Aber gehen Sie doch zu ihr und fragen
Sie sie. Allerdings möchte ich Sie warnen, Leslie ist viel cleverer,
als Sie denken.«
»Wie meinen Sie das?«
»Erinnern Sie sich an unsere Unterhaltung vom Montag?«
»Ja, und?«
»Meine Ausführungen zu Corinna und ihrer Agoraphobie?«
»Ja.«
»Gut. Dann erinnern Sie sich bestimmt auch noch an das, was
ich vorhin über Leslie und Corinna gesagt habe.«
»Dass sie sich in vielem ähnlich sind?«
»Ja. Passen Sie gut auf, was Sie sagen und vor allem fragen.«
»Alina, Sie kennen Leslie besser als die meisten, die mit ihr zu
tun haben. Warum soll ich aufpassen? Helfen Sie mir, bitte.«
Alina überlegte und sagte: »Sie haben Leslie zweimal gesehen
und gesprochen, wenn ich Sie recht verstanden habe?«
»Ja.«
»Ist Ihnen da nichts an ihr aufgefallen?«
Durant dachte angestrengt nach und antwortete: »Am Sonntag
war sie völlig aufgelöst und hat geheult. Am Montag war sie sehr
kühl und distanziert.«
»Hat Sie das nicht stutzig gemacht?«, fragte Alina.
»Schon, aber ...«
»Lassen Sie mich Ihnen etwas erklären, auch wenn ich es vorhin
schon einmal gesagt habe. Leslie ist psychisch und emotional
krank, genau wie
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