Das Todeskreuz
ihre Mutter es war. Ich habe außer Corinna
noch keinen Menschen kennengelernt, der andere so manipulieren
kann wie Leslie. Sie kann wie ihre Mutter auf Kommando
heulen, schreien, weinen, fröhlich sein, sie beherrscht die gesamte
Palette der Emotionen. Ein psychisch und emotional stabiler
Mensch kann so etwas nicht. Sie und ich, wir lachen, wenn
wir etwas lustig finden, oder weinen, wenn wir traurig sind. Bei
Leslie und Corinna ist beziehungsweise war das anders. Ihr
Freund Matthias etwa, er steht völlig unter ihrem Pantoffel. Sie
sagt spring, und er springt. Sie macht Schluss mit ihm und
schmeißt ihn raus und bittet ihn zwei oder drei Tage später theatralisch
um Verzeihung, und er kommt zurückgekrochen, weil er
es ohne sie nicht aushält und vielleicht auch denkt, sie braucht
ihn wie die Luft zum Atmen. Sie werden sich fragen, woher ich
das weiß. Leslie hat's mir erzählt, nicht so direkt, aber ich weiß,
dass es stimmt. Leslie ist die geborene Schauspielerin, sie hat
eigentlich ihren Beruf verfehlt Und genau deshalb halte ich es
für nicht ausgeschlossen, dass Leslie etwas mit den Morden zu
tun hat. Wenn ich es recht überdenke, halte ich es nach unserem
Gespräch nicht nur für nicht ausgeschlossen, sondern sogar für
wahrscheinlich.«
»Würde Leslie Ihrer Meinung nach in psychiatrische Behandlung
gehören?«
Alina nickte zögernd. »Ja, das würde sie definitiv.«
Durant erhob sich und sagte: »Ich danke Ihnen, Alina, für Ihre
Mitarbeit und Hilfe. Und ich würde mich freuen, Sie wiederzusehen,
vielleicht das nächste Mal unter anderen Umständen. Und
glauben Sie mir, ich stelle die richtigen Fragen.«
»Ich weiß, denn sonst wären Sie nicht zurückgekommen. Ich
würde mich auch freuen, wenn wir einmal etwas gemeinsam unternehmen
könnten. Tschüs.«
»Tschüs.«
Im Auto lehnte sich Durant an die Nackenstütze, schloss die
Augen und spürte den Herzschlag bis in den Kopf. Leslie Sittler,
dachte sie, sie hätte ich eigentlich beinahe ausgeschlossen. Was
hat Alina gesagt? Ich soll aufpassen, denn Leslie ist cleverer, als
ich denke. Das wollen wir doch mal sehen. Um Viertel nach
zwölf rief sie Brandt an und sagte: »Es wird noch eine Weile
dauern, bis ich fertig bin. Haben Sie noch die Geduld, um auf
mich zu warten?«
»Wie lange?«
»Maximal eine Stunde.«
»Ich geh was essen, und sollte ich in einer Stunde nichts von
Ihnen hören, fahr ich zurück nach Offenbach. Dort wartet auch
eine Menge Arbeit auf mich.«
»In spätestens einer Stunde bin ich im Präsidium. Bis nachher.
«
Donnerstag, 12.30 Uhr
Sie klingelte dreimal kurz hintereinander, bis Leslie sich
durch den Lautsprecher meldete.
»Hier Durant, ich würde gerne kurz mit Ihnen sprechen.«
»Kommen Sie rauf.«
Leslie Sittler war barfuß und trug eine graue Trainingshose
und ein T-Shirt, ihre Haare waren zerzaust, die Augen hatten einen matten Glanz, als wäre sie gerade erst aufgestanden oder hätte
bis in die frühen Morgenstunden durchgemacht.
»Bitte«, sagte sie ohne eine Begrüßung und ließ Durant an sich
vorbei in die Wohnung treten. »Sieht ein bisschen chaotisch aus,
aber ich hab noch nicht aufgeräumt. Mein Freund schläft, er ist erst
vor einer halben Stunde heimgekommen. Wir sollten deshalb ein
bisschen leise sein. Suchen Sie sich einen Platz aus.«
Auf dem Tisch und dem Teppich lagen mehrere Bücher und
Ordner, und das Notebook war an. Leslie klappte es zu und ließ
sich in einen der beiden Sessel fallen.
»Müde?«, fragte Durant und nahm ebenfalls Platz.
»Nee. nur gestresst, aber das sehen Sie ja selbst. Also, was gibt's,
denn Sie werden mich ja bestimmt nicht zum Spaß besuchen.«
»Sie können sich denken, dass wir fieberhaft nach dem Mörder
Ihrer Mutter fahnden, weshalb ich noch einige Fragen an Sie
hätte.«
»Schießen Sie los.«
»Ich möchte das ungern hier tun, da ich Ihnen auch einiges
zeigen will. Hätten Sie Zeit, für eine Stunde mitzukommen?«
»Darf ich fragen, was Sie mir zeigen wollen?«, fragte Leslie
misstrauisch.
»Das ist schwer zu erklären. Ziehen Sie sich etwas an und
kommen Sie mit, es wird auch nicht lange dauern.«
»Von mir aus«, sagte Leslie. zog sich eine Jeans, ein Sweatshirt,
Schuhe und eine Jacke an und nahm ihre Tasche, den
Schlüssel und die Schachtel Zigaretten, die auf dem Tisch lagen.
Während der Fahrt wechselten sie kaum ein Wort. Sie kamen gut
durch und erreichten das Präsidium um Viertel nach eins.
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