Das Todeskreuz
Kekse, die er in den kommenden Stunden nebenbei
knabbern würde. Sie verabschiedete sich für die Nacht, indem
sie die Arme von hinten um ihn legte, gab ihm einen Kuss
und schloss leise die Tür hinter sich.
Berger blieb bis halb drei in seinem Zimmer. Immer wieder
schüttelte er den Kopf wegen des Gelesenen. Er notierte sich die
Namen der drei Männer, die zum Zeitpunkt der Ermordung von
Peter Guttenhofer und Laura Kröger zwischen zwanzig und dreiundzwanzig Jahre alt waren und alle, wie Kremer bereits berichtete,
aus besten Verhältnissen stammten. Dazu noch etliche andere
Namen, die mit den jeweiligen Fällen zusammenhingen. Ein
paarmal stand er auf und ging im Zimmer umher, die Hände in
den Hosentaschen vergraben, und fragte sich, wie es sein konnte,
dass zwei Morde ungesühnt blieben, nur weil Staatsanwälte.
Richter und auch einige Polizeibeamte geschmiert worden waren.
Geschmiert von Vätern, die die Verbrechen ihrer Söhne als
Kavaliersdelikte betrachteten. Je mehr Berger las, desto wütender
wurde er, was bei ihm äußerst selten der Fall war, aber hier taten
sich Abgründe auf, die er in diesem Ausmaß und in dieser Tiefe
noch nie gesehen hatte. Er hatte schon mit dem organisierten Verbrechen
zu tun gehabt, mit Drogen-, Waffen- und Menschenhändlern,
mit Mördern und anderen Gestalten der Unterwelt,
Gesocks, wie er manche dieser skrupellosen Verbrecher nannte
(doch nur, wenn er allein war, nie in Gesellschaft anderer oder
gar vor Kollegen), aber diese Papiere von Kremer zeigten ganz
deutlich, wie korrupt das System selbst auf der untersten Ebene
war. Kommunalpolitiker, die mit Staatsanwälten und Richtern
per Du waren, mit ihnen zum Golfen oder zum Essen gingen
oder gar in die Ferien fuhren - und die mit ihnen schmutzige
Deals aushandelten. Politiker, Baulöwen und Immobilienhaie,
die ihre Macht, ihren Einfluss und vor allem ihr Geld dafür
nutzten, dass Kapitalverbrechen der übelsten Art offiziell einfach
nicht geschehen waren. Für alle stand enorm viel auf dem Spiel,
das Renommee, das Ansehen in der Gesellschaft und auch das
Geschäft. Und letzten Endes ging es nur ums Geld. Wer das Geld
hat, hat auch die Macht, dachte Berger, was sich in diesem Fall
nur zu sehr bewahrheitet. Und Berger wusste, wie immer mehr
Polizisten, ganz gleich, ob von der Schutzpolizei oder Kriminalbeamte,
aber auch Staatsanwälte und Richter bestechlich waren
und wurden. Er selbst kannte einige, die regelmäßig umsonst essen
gingen oder sich die Wohnung oder das Haus renovieren ließen, ohne auch nur einen Cent dafür zu zahlen. Kleine Gefälligkeiten,
die längst zur Tagesordnung gehörten und über die er
hinwegsah, denn er würde Kollegen nie anschwärzen, wenn sie
etwas annahmen, was sie eigentlich nicht hätten annehmen dürfen,
und wenn es sich nur um ein kostenloses Essen beim Italiener
oder Griechen handelte. Doch das vor ihm liegende Material
hatte eine andere Qualität. Auf gut zweihundertfünfzig Seiten
wurden Verbrechen geschildert, die an Grausamkeit und Perfidität
kaum zu übertreffen waren. Dennoch gab es offiziell keine
Täter, nur Opfer. Und Angehörige von Opfern. Freunde, Bekannte,
eine Ehefrau, einen Verlobten, Brüder, Schwestern, Eltern und
Kinder. Und genauso offiziell waren diese Verbrechen längst in
Vergessenheit geraten, doch noch viel schlimmer war, dass sie
gar nicht geahndet worden und damit eigentlich auch gar nicht
geschehen waren. Er hätte die Akten nur zu gerne einem Oberstaatsanwalt
aus Frankfurt gezeigt, einem deutschlandweit bekannten
und gefürchteten Korruptionsjäger, der aber auch immer
wieder an seine Grenzen stieß, und Berger fragte sich, wie lange
er wohl noch durchhielt oder ob er doch bald kapitulieren würde.
Aber er hatte Kremer versprochen, das Material absolut vertraulich
zu behandeln, und er würde sein Versprechen halten.
Doch, dachte Berger, die Verbrechen sind geschehen, und die
Verbrecher wurden nie dafür zur Rechenschaft gezogen. Laura
Kröger, zwanzig Jahre alt, Medizinstudentin im ersten Semester,
vergewaltigt, misshandelt und mit einem Kopfschuss hingerichtet.
Er betrachtete mehrere kopierte Farbfotos der jungen Frau,
die gerade zu leben begonnen hatte. Eine junge Frau mit Plänen
und Zielen, Hoffnungen und Träumen. Sie hatte ein fast schönes
und ausgesprochen ausdrucksstarkes Gesicht, mit langen hellbraunen
Haaren, großen blauen Augen und einem bezaubernden
Lächeln. Lebenslustig und voller
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