Das Todeswrack
angesichts der Leichtigkeit, mit der er seine Waffe handhabte, konnte Austin sich lebhaft vorstellen, welcher Art seine Probleme gewesen sein könnten, aber er ging nicht näher darauf ein.
»Ich vermute, der Anrufer hat seinen Namen nicht genannt.
Oder den Namen seines Auftraggebers.«
»Ja und nein. Es stimmt schon. Kein Name. Aber er hat anklingen lassen, dass er nicht auf eigene Faust tätig war, sondern dass ihm viele Brüder zur Seite stünden.«
»
Brüder.
Hat er vielleicht ›Bruderschaft‹ gesagt?«
»Ja. Ich glaube, genau diesen Ausdruck hat er gebraucht.
Haben Sie schon davon gehört?«
»Es gab eine Organisation namens Bruderschaft des Heiligen Schwerts der Wahrheit. Sie arbeitete mit der spanischen Inquisition zusammen. Aber das war vor vielen hundert Jahren.«
»Die Mafia gibt es auch schon seit vielen hundert Jahren«, erwiderte Donatelli und warf seinem Cousin einen amüsierten Blick zu. »Warum sollte das in diesem Fall anders sein?«
»Die ständige Existenz der Mafia lässt sich ziemlich gut anhand ihrer fortwährenden Tätigkeit belegen.«
»Ja, das stimmt, aber obwohl die Leute zu Hause wussten, dass es eine solche Organisation gab und dass die Schwarze Hand mit den Emigranten nach Amerika gekommen war, hatte die hiesige Polizei keinerlei Ahnung von La Cosa Nostra, bis ihnen zufällig jemand in die Hände fiel, der gegen den Kodex der
omerta
verstieß. Schweigen oder Tod.«
»Wollen Sie damit sagen, eine Organisation könnte jahrhundertelang im Geheimen vorgehen?«
Donatelli breitete die Arme aus. »Die Mafia mordete, erpresste, raubte. Und doch hat der FBI-Direktor Hoover geschworen, es gäbe so etwas wie La Cosa Nostra nicht.«
Austin musste einräumen, dass Donatelli Recht hatte. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen.
»Seit Ihrer Zeit als Kellner haben Sie viel erreicht«, sagte er und musterte die luxuriöse Wandtäfelung mit den Messingbeschlägen.
»Ich hatte Hilfe. Nach dem Schiffsunglück beschloss ich, nie wieder einen Fuß an Bord eines Boots zu setzen.« Er kicherte.
»Es gibt nichts Besseres als das furchtbare Gefühl, im Bauch eines sinkenden Schiffs eingeschlossen zu sein, um einem jegliche Seefahrtromantik auszutreiben. Die Frau, der ich zu helfen versuchte, ist leider an ihren Verletzungen gestorben. Als ich zu ihrer Beerdigung ging, hat ihr Mann mir abermals gedankt und gesagt, er wolle im Gegenzug etwas für mich tun.
Ich sagte, es sei mein Traum, ein kleines Restaurant zu besitzen.
Er gab mir das Startkapital für ein Lokal in New York, verbunden mit der Auflage, dass ich außerdem Wirtschafts- und Sprachkurse besuchte, die er mir ebenfalls bezahlen würde. Ich nannte das Restaurant
Myra,
nach Mr. Careys Frau. Im Lauf der Jahre habe ich in einigen Großstädten quer durch die USA noch sechs weitere Restaurants eröffnet. Ich wurde zum Millionär und konnte mir ein solches Leben leisten. Ich habe eine wunderbare Frau geheiratet. Sie hat mir vier Söhne und eine Tochter geschenkt, die allesamt in unserem Betrieb arbeiten und inzwischen viele, viele Enkelkinder bekommen haben.«
Er trank den letzten Schluck Grappa und stellte das Glas auf einem Tisch ab. »Ich habe dieses Haus hier für meine Familie gebaut, aber vermutlich auch deshalb, weil es in der Nähe der Untergangsstelle liegt. In nebligen Nächten wie dieser werden die Erinnerungen geweckt. Sie sehen, Mr. Austin, der Unfall war für viele Leute schlimm, zum Beispiel für Mr. Carey. Aber mein Leben hat er zum Besseren gewendet.«
»Warum erzählen Sie mir jetzt davon? Sie hätten mich doch einfach wieder wegschicken können.«
»Meine Frau ist letztes Jahr gestorben. Nachdem ich die
Andrea Doria
überlebt hatte, war ich der Ansicht, ich würde ewig leben. Ihr Tod war mir eine Mahnung, dass auch ich so sterblich bin wie jeder andere. Ich bin kein religiöser Mensch, aber ich habe immer öfter darüber nachgedacht, was richtig und was falsch ist. Diese Männer, die im Frachtraum des Schiffs ermordet wurden. Vielleicht auch die anderen, von denen Sie mir berichtet haben. Diese Leute brauchen jemanden, der für sie spricht.« Sein Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an.
»Ich werde der Sprecher für die Toten sein.« Donatelli warf einen Blick auf die Wanduhr. »Es wird langsam spät, Mr. Austin. Haben Sie schon eine Übernachtungsmöglichkeit?«
»Ich wollte mir eigentlich ein Zimmer in einer Pension nehmen.«
»Nicht nötig. Seien Sie bis morgen früh mein Gast. Zum Abendessen werde
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