Das Todeswrack
lag ein feuchter Film, der nichts mit dem Taupunkt zu tun hatte.
Sein Blick wanderte zum Kaminsims empor und blieb an einem detaillierten und maßstabsgetreuen Modell
der Andrea Doria
hängen. Das Modell war nur ein Teil der Sammlung von Erinnerungsstücken. Überall in dem großen Wohnraum fanden sich Fotos, Gemälde und sogar ein Stück Treibgut. Alles hatte mit der D
oria
zu tun.
Donatelli musterte ihn eindringlich. Das flackernde Licht aus dem Kamin erhellte die noch immer gut aussehenden Gesichtszüge eines Mannes Mitte sechzig. Das dichte wellige Haar, das er gerade nach hinten gekämmt trug, war grauer, als es auf dem Magazinfoto gewirkt hatte. Im Großen und Ganzen war Donatelli auf ansprechende Weise gealtert. Er befand sich nach wie vor in guter körperlicher Verfassung, und in dem teuer aussehenden hellblauen Trainingsanzug und den Laufschuhen Marke New Balance wirkte er, als würde er einiges für seine Fitness tun.
Cousin Antonio war das genaue Gegenteil. Er war klein und untersetzt, mit kahlem Kopf und wachsamen Augen. Sein Gesicht sah aus, als hätte ein Boxer es als Sandsack benutzt. Die Nase war gebrochen, er hatte Blumenkohlohren, und die fahle Haut war von zahlreichen Narben überzogen. Er trug ein schwarzes Hemd und eine schwarze weite Hose. Als er zurückkam, brachte er ein Tablett mit zwei Brandygläsern und Austins Brieftasche mit. Nur die Schrotflinte, die über seiner Schulter hing, wollte nicht so recht zum Bild des Kellners passen.
»Grappa«, sagte Donatelli. »Der vertreibt die Feuchtigkeit aus den Knochen.«
Austin steckte seine Brieftasche wieder ein und nippte an dem Weinbrand. Das italienische Feuerwasser versengte ihm fast die Kehle. Es fühlte sich gut an.
Donatelli trank ebenfalls einen Schluck. »Wie haben Sie mich hier gefunden, Mr. Austin?«, fragte er dann. »Ich habe in meine m Geschäft die strikte Anweisung erteilt, niemandem zu verraten, wo ich bin.«
»Jemand aus dem Restaurant hat gesagt, dass Sie sich auf der Insel aufhalten.«
Der ältere Mann lächelte. »So viel zu meinen Sicherheitsvorkehrungen.« Donatelli trank noch einen Schluck und starrte schweigend ins Feuer. Nach einer Minute richtete er seinen durchdringenden Blick wieder auf Austin. »Es war kein Raubüberfall«, sagte er rundheraus.
»Hat der Reporter Sie falsch verstanden?«
»Ich habe den Vorfall umständehalber so bezeichnet. Bei eine m Raubüberfall
nehmen
die Diebe etwas. Das Einzige, was diese Diebe genommen haben, war das Leben der Wachmannschaft.« Mit einem guten Gedächtnis für Einzelheiten und gelegentliche n Anflügen von Humor schilderte Donatelli dann die Ereignisse jener denkwürdigen Nacht im Jahre 1956.
Auch nach all diesen Jahren zitterte seine Stimme, als er die Bewegungen des sterbenden Schiffs und seinen Weg in den überfluteten dunklen Rumpf beschrieb. Er erzählte von dem Mord an den Wachen des gepanzerten Lastwagens, seiner Flucht und schließlich der Rettung. »Sie haben gesagt, in dem Wagen hätte ein Stein gelegen«, wiederholte er nachdenklich. »Warum sollte jemand wegen eines Steins Morde begehen, Mr. Austin?«
»Vielleicht ist es nicht nur
irgendein
Stein.«
Er schüttelte verständnislos den Kopf.
»Mr. Donatelli, vorhin haben Sie gesagt, Sie hätten mich für einen von ›denen‹ gehalten. Was haben Sie damit gemeint?«
Der alte Italiener dachte sorgfältig nach. »In all den Jahren seitdem Untergang des Schiffs habe ich nichts von den Ereignissen erzählt«, sagte er dann. »Das Interview mit dem Zeitungsreporter war ein Ausrutscher. Tief in meinem Herzen habe ich gewusst, dass es klug war, nichts darüber verlauten zu lassen. Nachdem der Artikel erschienen war, erhielt ich einen Anruf. Jemand warnte mich, niemals wieder ein Wort über jenen Zwischenfall zu verlieren. Ein Mann mit einer eisigen Stimme.
Er wusste
alles
über mich und meine Familie. Er kannte den Friseur meiner Frau. Die Namen meiner Kinder und wo sie zur Schule gingen. Er sagte, falls ich je wieder mit
irgend jemand
über jene Nacht reden würde, wäre das mein sicheres Todesurteil. Aber vorher müsste ich noch mit ansehen, wie meine Familie vernichtet würde.« Er starrte ins Feuer. »Ich stamme aus Sizilien. Ich habe ihm geglaubt. Ich habe keine weiteren Interviews mehr gegeben. Ich habe Antonio gebeten, herzukommen und bei uns zu leben. Er hatte zu Hause, äh, Schwierigkeiten mit den Behörden und war froh über den Tapetenwechsel.«
Nach Tonys zerschlagenem Gesicht zu urteilen und
Weitere Kostenlose Bücher