Das Tor ins Nichts
er.
»Kaum. Wenn er ein Betrüger ist, dann weiß ich es im gleichen Moment, in dem ich ihm gegenübersitze.«
Jeremy schien nicht überzeugt, denn er verzog abermals das Gesicht. »Du beginnst dich zu überschätzen, Robert«, warnte er. »Sei vorsichtig. Diese Sektierer können gefährlich werden.«
»Ich habe den schwarzen Gürtel in Mikado«, antwortete ich scherzhaft.
»Und wenn er eine schwarze Pistole zieht?« erwiderte Jeremy ernst.
»Versuch es doch mal!«
»Hm?« machte Jeremy.
Ich unterstrich meine Aufforderung mit einer entsprechenden Handbewegung. »Versuch es«, sagte ich noch einmal. »Zieh deine Pistole und lege auf mich an.« Dann fiel mir ein, daß er ja gar keine Waffe bei sich trug. »Meinetwegen nimm deine Pfeife und mach Bumm«, sagte ich. »Nun tu mir schon den Gefallen.«
Jeremy seufzte und machte ein gequältes Gesicht, das deutlich zeigte, wie wenig er von meinem Vorschlag hielt, aber dann spielte er mit. Mit einer Schnelligkeit, die mich wirklich überraschte, zog er seine Pfeife aus der Rocktasche und zielte mit dem Mundstück auf mich. »Und jetzt, Mijnheer Robert Craven«, sagte er mit albern verstellter Verbrecherstimme,
»beten Sie Ihr letztes Gebet.«
»Aber woher denn«, antwortete ich freundlich. »Ich denke, ich rufe lieber einen Arzt für Sie, Mijnheer Card. Er ist sehr giftig.«
Jeremy runzelte verblüfft die Stirn und schrie vor Schreck auf, als er sah, was er da plötzlich in der Hand hielt: nämlich nichts anderes als einen riesigen, giftiggelben Skorpion, dessen nadeldünner Stachel sich eben zum Zuschlagen erhob. Mit einem entsetzten Keuchen sprang er auf und schleuderte den Skorpion in hohem Bogen quer durch das Zimmer. Noch im Flug verwandelte sich das Tier in eine abgewetzte Meerschaumpfeife zurück, die klappernd an der gegenüberliegenden Wand zerbrach.
»Entschuldige«, sagte ich. »Das wollte ich nicht. Ich kaufe dir eine neue Pfeife.«
Jeremy antwortete nicht gleich, sondern starrte eine ganze Weile lang abwechselnd die zerbrochene Pfeife und mich an, ehe er sich wieder setzte. Er war ganz blaß geworden, und jetzt war ich es, der ein schlechtes Gewissen bekam. Ich hatte ihm einen größeren Schrecken eingejagt, als ich wollte.
»Das war … sehr beeindruckend«, sagte er stokkend. »Wie hast du das gemacht?«
»Illusion«, antwortete ich. »Im Grunde ein ganz simpler Trick. Du siehst, ich habe in den letzten Monaten nicht nur in Büchern meines Vaters gelesen, sondern auch das eine oder andere gelernt.«
Was ich sagte, entsprach nicht ganz der Wahrheit. Es war kein simpler Trick gewesen, sondern etwas, das meine ganze Konzentration brauchte und auch dann nicht immer funktionierte und genau genommen wußte ich selbst nicht so recht, wie ich es eigentlich zustande brachte. Tatsache war, daß ich in der Lage war, anderen Menschen unter gewissen Voraussetzungen Dinge vorzugaukeln, die nicht da waren. Ob mir dies auch bei einem Gegner gelingen würde, der ebenfalls über ein gewisses magisches Wissen verfügte, wußte ich nicht. Aber das sprach ich nicht aus. Schließlich kam es mir darauf an, Jeremy zu beruhigen.
»Wirklich beeindruckend«, sagte er noch einmal. »Aber trotzdem ich bin nicht begeistert davon, daß du ausgerechnet jetzt nach Amsterdam fahren willst.«
»Ich fahre«, beharrte ich. »Holland ist ein schönes Stückchen Erde. Ich wollte schon immer einmal dorthin.«
Jeremy seufzte, griff in seine Jacke und zog seine Brieftasche hervor. Umständlich klaubte er eine kleine, zerknickte Visitenkarte heraus und schnippte sie mir über den Tisch hinweg zu.
»Das ist die Adresse meines Freundes bei der Amsterdamer Polizei«, sagte er. »Ich rufe ihn morgen an. Du meldest dich bei ihm, sobald du angekommen bist. Vielleicht kann er dir helfen.« Er sah auf die Uhr und stand auf. »Ich muß gehen. Wir telefonieren noch einmal, bevor du abreist. Und denk an den Kater.«
Ich dachte nicht an den Kater, und irgendwie mußte es Jeremy wohl gelungen sein, die Sache abzubiegen, denn ich hörte weder von ihm noch von der Gesundheitsbehörde auch nur ein Sterbenswörtchen. Und zwei Tage später saß ich in einem Abteil der Niederländischen Eisenbahngesellschaft und näherte mich Amsterdam, nach einer gräßlichen, schier endlosen Überfahrt in einem schwankenden und schaukelnden Fährschiff, das mich vom Harwich nach Hoek van Holland gebracht hatte. Es hatte am Morgen in London zu regnen begonnen, und das schlechte Wetter war mir wie ein treuer Hund auf
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