Das Totenhaus
übers Ohr gehauen hat.«
Lily stand auf, um noch eine Flasche Wein zu öffnen. »Ist es für Sie dort bequem?«, fragte sie und deutete auf den Tisch. »Will mir jemand von Ihnen vielleicht bei etwas Härterem Gesellschaft leisten?«
Wir lehnten dankend ab, und Mike stand auf, um uns Kaffee nachzuschenken.
»Erzählen Sie uns von Lola. Ich meine, aus Ihrer Perspektive, aus der Perspektive der Familie. Vor und nach Ivan.«
Sie machte die Kühlschranktür zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, bevor sie uns signalisierte, ihr nach nebenan in eine holzgetäfelte Bibliothek zu folgen. An zwei Wänden standen Bücherregale, und die Wand hinter dem Sofa war vom Boden bis zur Decke mit Familienfotos behängt.
»Um irgendjemanden von uns zu verstehen, muss man wohl mit meiner Mutter, Ceci Dakota, anfangen. Haben Sie je von ihr gehört?« Noch bevor wir antworten konnten, fuhr sie fort. »Das ist Ihr Problem, Detective. Sie sind viel zu jung.« Während sie mit einer Hand fest ihr Glas umklammert hielt, legte sie die andere auf Mikes breite Schulter. »Mutter war ein Broadway-Showgirl, ein Revuegirl. Sie konnte besser tanzen als singen, aber damals in der Blütezeit des amerikanischen Musicals mussten die Mädchen alles können.«
Ich trat hinter Lily, um mir die alten Schwarzweißfotos anzusehen. »Cecile - sie hasste diesen Namen - gab ihr Debüt in South Pacific; sie spielte eine der Krankenschwestern in der Tanzgruppe, 7. April 1949, Majestic Theatre auf dem Broadway. Fragen Sie, was Sie wollen, und ich kann Ihnen mehr darüber erzählen, als Ihnen lieb ist, allein aus Cecis Erzählungen. Das Stück lief fünf Jahre - eintausendneunhundertfünfundzwanzig Aufführungen -, und sie blieb zwei komplette Spielzeiten dabei. Was meinen Sie? Wie oft kann man sich >einen Mann aus den Haaren waschen< und es nie weiterbringen als in die zweite Reihe? Sie war einige Wochen lang tatsächlich zweite Besetzung für Mary Martin, aber die Frau war keinen einzigen Tag krank, also sah sich Ceci nach etwas anderem um. Das Fazit war, dass jeder von uns nach einer Figur aus einer der Shows benannt wurde. Aus irgendeinem Grund hatten es ihr die L's besonders angetan. Ich erwischte Lily, aus Kiss Me, Kate, was weiter nicht schlimm ist. Meine nächstjüngere Schwester wurde Liat, aus South Pacific. Die Tochter von Bloody Mary, Sie wissen schon? Es ist nicht leicht, als Tonkinesin in Totowa, New Jersey, aufzuwachsen.« Sie schenkte sich wieder ein. »Und dann kam Lola.«
Sie hatte bei den Erinnerungen lächeln müssen, aber ihre eigene Erwähnung von Lolas Namen ließ sie stutzen. »Ceci tanzte noch immer.« Sie deutete mit dem Weinglas auf ein Foto ihrer Mutter in schwarzen Fischnetzhosen und einem Nadelstreifenhemd, die Hände in die Hüften gestützt und den Mund weit geöffnet. »Das einzige Mal, dass sie beinahe eine Hauptrolle gehabt hätte. Drei Vorstellungen, in denen sie für Gwen Verdon in Damn Yankees einsprang. Sie war fast die ganze Zeit dabei, von der Premiere am 5. Mai 1955 die nächsten eintausendneunzehn Aufführungen über. Sie hat '58 sogar eine Rolle in dem Film bekommen. Dann nahm sie eine Auszeit, weil sie wieder schwanger war. So bekamen wir meine kleine Schwester Lola.«
Mike starrte auf ein Foto von drei langbeinigen kleinen Mädchen in Tutus, die um einen Korbkinderwagen standen, der mit blauen Bändern behängt war. »Ein kleines Brüderchen?«
»Ja, er kommt später hierher, falls Sie mit ihm sprechen wollen.«
»Lassen Sie mich raten - Guys and Dolls?«
»Schön wär's. Da wäre er nach einem echten Kerl benannt worden. Louie oder Lefty oder Lucky. Hat ihm vielleicht ein paar Prügeleien auf dem Pausenhof erspart. Aber es waren die sechziger Jahre, und Ceci schwärmte total für Robert Goulet. Versuchen Sie es mit Camelot. Sie nannte ihn Lance. Lancelot Dakota.« Lily ließ sich auf eine Stoffcouch sinken und legte ihre Füße auf den Glastisch, der davor stand.
»Also Ihre Mutter tingelte auf dem Broadway. Und Ihr Vater?«
»Unterrichtete Geschichte an der hiesigen High School. Er ließ meiner Mutter ihre Freiheit und hatte nichts dagegen, dass sie uns Tanzunterricht verordnete und uns zu Samstagsmatineen in die Stadt schmuggelte, wenn sie eine der Tänzerinnen kannte. Wenn er nicht gerade Geschichtsbücher las, engagierte sich Dad sehr in der Lokalpolitik. Liat und ich wollten ins Showbusiness. Vorsingen und tanzen ohne Ende, Tag und Nacht das Ohren betäubende Klappern von Steppschuhen im Haus.
Weitere Kostenlose Bücher