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Das Totenhaus

Das Totenhaus

Titel: Das Totenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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unheimlich wirkenden Umrisse einer Gebäuderuine gegen den Nachthimmel ab, die mit gefrorenem Schnee bedeckt war und in deren leeren Fensterhöhlen Eiszapfen hingen.
    »Worüber denkst du nach? Wo warst du gerade?«
    »Ich habe nur so vor mich hin geträumt. Ich dachte gerade, dass das dort das schönste Gebäude in New York ist.«
    »Welches?«
    »Die verlassene Klinik.« Ich deutete auf die Südspitze der Insel im Fluss. »Es ist die einzige Ruine in der Stadt, die unter Denkmalschutz steht. Sie ist von dem gleichen Architekten, der die St.-Patrick's-Kathedrale gebaut hat, James Renwick.«
    »Weißt du, dass du besser als jeder andere Mensch auf der Welt das Thema wechseln und vom eigentlichen Thema ablenken kannst?«
    »Ich wusste nicht, dass wir ein Thema hatten. Die Wintersonnenwende?«
    »Ich weiß, woran du denkst, Coop.« Mike nahm die Ausfahrt an der Sixty-first Street und blieb an der Ampel stehen. »Du grübelst über Mercer und Vickee nach. Und über das Baby.«
    »Ich grüble nicht.«
    »Du fängst an, dir Gedanken über dein eigenes Leben zu machen, nicht wahr? Familie, Karriere, Sinn und Unsinn von -«
    »Fang jetzt bloß nicht mit diesem Hamletkram an, Mikey. Ich freue mich riesig für sie. Er hat Vickee immer geliebt, und ich finde es perfekt, dass sie wieder zusammen sind. Ich habe wirklich nicht weiter darüber nachgedacht.«
    »Nun, dann solltest du das vielleicht tun.« Wir näherten uns meiner Wohnung, und ich verlagerte mein Gewicht. »Wie lange willst du das noch machen, Coop? Mit uns mitten in der Nacht Räuber und Gendarm spielen? Jetzt hast du einen Mann, der verrückt nach dir ist, und du könntest dir in einer privaten Anwaltskanzlei dein Gehalt aussuchen oder gleich deine eigene Kanzlei aufmachen. Scheiße, du könntest alles an den Nagel hängen und ein paar Kinder bekommen. Kleine Nachrichtenbengel.«
    »Hier geht's nur um Sie, Mr. Chapman.« Ich rutschte nervös hin und her, während wir uns der Auffahrt näherten. »Es hört sich an, als ob Mercers neuer Lebenswandel dir mehr zusagt als mir. Er wollte unbedingt heiraten und Kinder bekommen. Ich bezweifle, dass er jemals darüber hinweggekommen ist, dass Vickee ihn damals verlassen hat. Außerdem ist er vierzig Jahre alt, und ich bin erst fünfunddreißig -«
    »Und die biologische Uhr tickt.«
    »Er liebt Kinder. Schon immer. Ich beobachte ihn bei der Arbeit mit misshandelten Kindern. Er kann unglaublich gut mit ihnen umgehen.«
    »Das kannst du auch.«
    »Ja, aber er mag sie alle. Ich mag nur die, die ich kenne und gern habe. Ich bete meine Nichten und Neffen an. Ich schätze die Kinder meiner Freunde. Aber ich sitze nicht in einer Flughafenlounge, umgeben von quengeligen Kleinkindern, die sich den Rotz an den Ärmeln abwischen, oder bockigen Teenagern, die sich mit ihren Eltern streiten, und denke, dass mir etwas fehlt. Ich würde jederzeit einem Hund den Vorzug geben.«
    »Die Leute denken, dass du verrückt bist, in dem Job zu bleiben, und die meisten glauben, dass du nicht ganz richtig im Kopf bist, weil du ihn so gern machst.«
    »Ich habe vor langer Zeit gelernt, mir keine Gedanken darüber zu machen, was andere Leute denken. Es sei denn, es sind Leute, die mir viel bedeuten. Du liebst deinen Job auch. Warum verstehst du dann nicht, dass ich das ebenfalls tue?«
    »Das ist was anderes.«
    »Warum? Du schnüffelst Tag und Nacht um Leichen herum. Ich kann Leuten helfen. Leuten, die noch am Leben sind. Leuten, die das Trauma überlebt haben, die sich davon erholen werden, die ein bisschen ausgleichende Gerechtigkeit erfahren, weil es uns gelingt, das System zu ihren Gunsten einzusetzen.«
    Mir wurde bewusst, dass ich laut geworden war, also fuhr ich ruhiger fort: »Vor zwanzig Jahren konnten Ankläger mit solchen Fällen vor keinem Gericht gewinnen. Jetzt gewinnen die Leute in meiner Abteilung jeden Tag. Was anderes? Sagt wer? Du? Weil dir deine engstirnige, beschränkte Erziehung sagt, dass Frauen nicht diese Art von Arbeit tun sollen! Hab ich Recht?«
    Ich war wieder lauter geworden. Es hatte keinen Sinn, etwas zu erklären, was er ohnehin wusste.
    Wir standen in der Auffahrt vor meinem Haus, und der Portier, der mir die Beifahrertür aufmachen wollte, stand abwartend da, bis wir unseren Wortwechsel beendet hatten. Ich war mir sicher, dass er meine aufgeregte Stimme durch das Fenster hören konnte.
    Mike sprach eine Spur leiser. »Weil ich denke, dass es Zeit ist, dass du dir über den Rest deines Lebens Gedanken machst,

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