Das Totenhaus
den falschen Ausweis an ihre Akte und fuhr fort, ihr Fragen zu stellen.
Sie vermied jeden Blickkontakt und starrte nur auf die Akte. Sobald die Vernehmung vorüber war, wollte sie ihren Ausweis zurückhaben. Ich verweigerte ihn ihr mit der Begründung, dass er gefälscht sei und keine Gültigkeit besäße. Ich hatte sie zur Zeugenbetreuungsstelle hinuntergebracht, wo sie therapeutische Unterstützung bekommen konnte sowie Hilfe bei den Problemen mit ihrem Vermieter, der sie auf die Straße setzen wollte, weil sie seit vier Monaten mit ihrer Miete im Rückstand war. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass sie in Maryland in der Nähe des Wohnsitzes ihrer Eltern wegen Ladendiebstahls gesucht wurde.
»Was hat Shirley denn gestern so aufgeregt?«
»Nun, sie sagte, dass sie, als sie von der Professorin las, die umgebracht wurde - diese Dakota -, wieder an Sie denken musste und daran, wie wütend sie war, weil Sie ihr den Ausweis abgenommen haben.«
»Hat sie Ihnen gesagt, warum sie so wütend war?«
»Sie werden es für verrückt halten. Aber Sie kennen ja ihre umfangreiche psychiatrische Vorgeschichte, richtig? Sie nimmt seit zwei Jahren Psychopharmaka. Sie sagt, dass sie über achtzig Pfund zugenommen hat, dass auf diesem Ausweis das einzige schöne Foto ist, das sie von sich hat, und dass sie es zurückhaben will.«
»Und warum haben Sie mich nicht angerufen, um mir zu sagen, dass sie es wiederhaben will?« Es wäre ein Leichtes gewesen, das Problem zu lösen. Ich hätte ihr nur das Foto geben und den falschen Ausweis einbehalten können.
»Nun, Ms. Cooper, ich weiß, ich habe es im Studium gelernt, aber ich habe die >Warnpflicht<-Doktrin total vergessen. Ich meine, alle sagen, dass Sie so unabhängig sind, dass es mir nie in den Sinn gekommen wäre, dass Shirley Denzig Ihnen wirklich auf die Pelle rücken würde.«
Mein Herz schlug schneller. Ich stand noch immer im Mantel und in Handschuhen neben meinem Bett und hörte von dieser geistig verwirrten, jungen Frau, die anscheinend vor kurzem vor meinem Haus aufgekreuzt war. »Mich warnen wovor?«
»Das Gesetz besagt, dass es die Schweigepflicht nicht verletzt, wenn ich Ihnen sage, dass eine Patientin damit droht -«
»Ich weiß, wie der Paragraf lautet, Joan. Das Privileg des Patienten hört dort auf, wo die Gefahr für die Öffentlichkeit beginnt. Ich will wissen, was Shirley gesagt hat.«
»Sie sagte mir, dass sie möchte, dass Sie tot sind, genau wie diese Professorin. Sie fragte mich, wie Sie zur Arbeit kommen und wann Sie normalerweise abends Schluss machen.«
So weit machte mir das keine Sorgen. Die Antworten darauf lauteten, dass mein Weg zur Arbeit und mein Arbeitstag jeden Tag anders aussahen. Diese ambulante, massiv Psychopharmaka schluckende Patientin mochte vielleicht daran interessiert sein, mir das Leben schwer zu machen, aber sie hatte auf mich keinen gefährlichen Eindruck gemacht.
»Ms. Cooper, ich wusste nicht, ob ich ihr glauben sollte, aber sie sagte mir, dass sie eine Pistole hätte. Sie hat sie letztes Wochenende ihrem Vater gestohlen, als sie ihn zu Hause in Baltimore besucht hat.«
Jetzt wurde ich doch eine Spur aufmerksamer. »Und heute Abend? Was ist heute Abend passiert?«
»Shirley kam zur Zeugenbetreuungsstelle. Sie sagte einer meiner Kolleginnen, dass Sie ihren Fall behandeln und dass Sie ihr Ihre Privatnummer gegeben haben. Sie sagte, dass man sie aus der Wohnung geworfen hat, weil sie ihre Miete nicht bezahlt hat, und dass sie dem Portier ein kleines Geschenk für Sie geben wolle. Wir wissen, dass Sie ab und zu Zeuginnen Ihre Nummer geben.«
Ja, aber nicht Verrückten, wenn es sich vermeiden lässt.
»Sie war so aufgebracht, dass ihr meine Kolleginnen die Informationen gaben. Sie wussten ja nicht, wie Shirley wirklich über Sie dachte. Ich bin die Einzige, der sie es gesagt hat. Ich wollte Sie nur warnen, für den Fall, dass sie bei Ihnen aufkreuzt. Sie ist sehr, sehr wütend auf Sie.«
»Danke, Joan. Ich werde am Montagvormittag einen Polizeibericht darüber verfassen lassen, in Ordnung? Ich schicke den Polizisten hinunter zu Ihnen ins Büro. Sagen Sie ihm einfach, was Sie mir gesagt haben.«
Ich ging zum Wandschrank im Flur und hängte meinen Mantel und meinen Schal auf. Ich war zu munter, um ins Bett zu gehen, aber ich hatte heute Abend auch schon genug getrunken, also versuchte ich, es mir im Bett mit dem Roman Der große Gatsby gemütlich zu machen. Ich hatte vor, alle FitzgeraldRomane noch einmal zu lesen, aber es war
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