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Das Trauma

Das Trauma

Titel: Das Trauma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Grebe
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ein junger Typ in T-Shirt und Mütze zu sehen. Er sitzt zurückgelehnt, fast in sich zusammengesunken, an einem großen Schreibtisch. Ihm sitzt auch jemand gegenüber, aber es ist nicht zu sehen, wer. Die Kamera ist auf den Jungen gerichtet. Und plötzlich geht mir auf, dass er mich an jemanden erinnert, aber ich weiß nicht, an wen. Es liegt an dem mageren Körper, dem trotzigen Gesicht, der heiseren Stimme.
    »Ich habe sie nie angerührt. Warum hätte ich das tun sollen?«, fragt der Junge mit der Mütze.
    »Sie hat dich zweimal angezeigt, ich habe hier die Unterlagen«, sagt die andere, die anonyme Stimme. Es ist eine Frauenstimme, höre ich jetzt, auch sie heiser, androgyn, kratzig wie Sandpapier. Als hätte diese Frau Zehntausende von Zigaretten geraucht und viele Jahre lang ungehorsame Kinder angeschrien.
    Der Junge mit der Mütze zuckt mit den Schultern und sieht gleichgültig aus, lässt sich im Sessel nur noch tiefer sinken.
    »Von mir aus, ich sag doch, dass sie lügt.«
    »Gelogen hat, meinst du?«
    Abermals zuckt er mit den Schultern, diesmal ohne etwas zu sagen.
    Die heisere Frauenstimme seufzt, ein Knacken ist zu hören, als trommele jemand mit einem Kugelschreiber auf den Tisch.
    »Ist es dir denn total egal, dass sie tot ist?«
    Der magere Körper zuckt zusammen.
    »Spinnen Sie? Natürlich ist mir das nicht egal. Sie war ja immerhin meine Mutter.«
    Markus berührt die Tastatur mit der linken Hand und stoppt die Aufnahme, als der Junge mit der Mütze so plötzlich aufspringt, dass der Sessel rückwärts gegen die Wand geschleudert wird. Als das Bild erstarrt, als der Augenblick auf Markus’ Bildschirm eingefangen wird, schaue ich wieder in das Gesicht, das mir bekannt vorkommt.
    »Du dürftest das nicht sehen, es ist vertraulich. Aber … scheiß drauf.«
    »Was machst du?«
    »Arbeiten. Konnte nicht schlafen. Sonja hat mich gebeten, mir einige Vernehmungen anzusehen.«
    »Wo ist Aina?«
    »Sie ist vor einer halben Stunde gegangen. Ich soll grüßen.«
    »Wer war er? Ich habe ihn erkannt.«
    »Das glaube ich nicht. Es ist der Sohn von Susanne, der ermordeten Susanne.«
    »Genau, sie hatte noch einen älteren Sohn. Eine Frau aus der Gruppe hat das erwähnt.«
    Markus nickt und blickt zum ersten Mal zu mir auf. Seine Augen sind vor Müdigkeit rot unterlaufen.
    »Hat schon als Teenager ein Kind bekommen. Vom ersten Tag an gab es Probleme, in der Kita, in der Schule. Er nimmt Drogen, muss in ein Erziehungsheim. Sie, Susanne, hat ihn schon einmal wegen Drogenkonsums angezeigt. Sie haben sich wohl auch wegen Geld und solcher Dinge gestritten.«
    »Drogenkonsum, aber … wie alt ist er eigentlich? Er sieht ziemlich jung aus.«
    »Sechzehn.«
    »Sechzehn?«
    »Genau.«
    »Shit.«
    »Du sagst es.«
    Markus senkt seinen rotunterlaufenen Blick. Schaltet den Rechner aus und seufzt tief, vor Müdigkeit oder vielleicht aus einem anderen Grund.
    »Du hast gesagt, du hast ihn erkannt?«
    Langsam schüttele ich den Kopf, unsicher, wie ich mich ausdrücken soll, ohne verwirrt zu wirken.
    »Er erinnert mich an irgendwen. Weißt du noch, der Abend am Medborgarplatz, als Henrik Fasth mich angesprochen hat? Da war noch ein anderer Junge. Vorher. Ach, es spielt keine Rolle.«
    »Nein, jetzt red schon. War er das?«
    Ich massiere meine Schläfen, versuche, mich zu erinnern, spüre die Kopfschmerzen hinter meiner Stirn pochen. Ich lasse mich neben Markus auf den Stuhl sinken, beuge mich zu ihm vor und küsse seine stachlige Wange. Sauge den vertrauten Duft von warmer Haut ein, der nur ihm gehört.
    »Nein, ich glaube nicht, dass er es war, aber sie sehen sich sehr ähnlich. Es war auch ein Junkie. Unangenehm jung. Genau wie dieser Junge. Steht er unter Verdacht?«
    Markus fährt mir durch die kurzen Haare.
    »Vermutlich. Aber er hat ein Alibi. Er war doch in diesem Heim.«
    »Und sie haben in jeder Sekunde den Überblick über alle ihre Rotzgören?«
    Markus zuckt mit den Schultern.
    »Da musst du jemand anderen fragen. Ich gehe nur auf Sonjas Wunsch ein paar Sachen durch.«
    Ich sehe ihn wieder an, ahne die Resignation hinter dem gesenkten Blick, und plötzlich werde ich von Zärtlichkeit für ihn erfüllt. Der ganz perfekte Mann, der hier neben mir sitzt, Vater des Kindes, das ich in mir trage, er, den ich so oft nicht richtig zu schätzen weiß. In einer Welt, bevölkert von sechzehnjährigen Drogensüchtigen, einer Welt, erfüllt von Einsamkeit und namenloser Trauer, haben wir einander.
    »Komm«, sage ich und nehme

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