Das Trauma
seine Hand.
Er sieht verwirrt aus.
»Was …?«
»Wir legen uns wieder hin. Es ist noch keine sechs.«
Er lächelt zaghaft. Ich war in letzter Zeit nicht gerade auf Nähe aus, und ich vermute, mein Kommentar macht ihn unsicher. Aber er erhebt sich und folgt mir ins Schlafzimmer, die Hände auf meine Schultern gelegt, wie um zu markieren, dass ich ihm gehöre. Und ich stelle fest, dass mir das durchaus gefällt, dass es gar kein schlechtes Gefühl ist.
Ihm zu gehören.
Wir ziehen uns die dicke Daunendecke über den Kopf, wie um aus dieser Welt in eine andere zu fliehen. Seine Küsse schmecken nach Käsebroten und Kaffee, und ich kichere, als er mir die Unterhose auszieht und sich über mich hebt. Und für eine Sekunde ist alles perfekt. Markus, der meine Brüste streichelt und meinen Hals küsst, das Kind, die physische Manifestation unserer Liebe, das irgendwo in meinem dunklen Inneren ruht. Noch immer unsichtbar, unbeweglich. Mehr Phantasie als Wirklichkeit, wie eine vage Erinnerung aus einem Traum.
Und ich gestatte mir, diesen Gedanken zu denken, dass ich glaube, dass es wohl so ein Gefühl ist.
Glücklich zu sein.
Irgendwo in der Nähe von Stockholm, November
Die enge Kammer ist ganz dunkel. Wenn sie den Rücken an die Wand presst und versucht, die Beine auszustrecken, stößt sie gegen die Tür. Auf den Seiten berührt sie feuchte Bretterwände. Sie fühlen sich an wie die Wände der Boxen in dem Stall, in dem sie manchmal mit Mama war: hart, feucht und irgendwie kratzig.
Auf dem Boden drängen sich Zeitungsstapel mit verblichenen Bildern von nackten Tanten mit blödem Lächeln und fetten Brüsten, die tief über den Bauch hängen, das hat sie gesehen, als er die Tür aufgemacht hat, um das kleine Tablett mit Rosinenbrötchen und Saft auf den Boden zu stellen.
Das Erste, was passiert ist, als sie den Saft trinken wollte, war, dass sie das große Glas auf dem Boden umgestoßen hat, und jetzt sitzt sie in der klebrigen Saftpfütze und ist durstiger und friert mehr denn je.
Um ihr eines Handgelenk ist das Seil festgeknotet, es streckt sich in die Dunkelheit nach oben und hindert sie daran, mit der Hand den Boden zu berühren. Wenn sie schläft, schwebt ihre eingeschlafene Hand in der Dunkelheit über ihr wie ein Ballon.
Sie friert.
In der Ecke der Kammer steht der Topf, den der Mann hereingestellt hat. Aber sie weiß nicht richtig, wie sie den benutzen soll. Und sie hat Angst davor, in der Dunkelheit ihre Hose auszuziehen. Angst, jemand oder etwas könnte sie plötzlich in den Po kneifen. Also hat sie im Sitzen auf den Boden gepinkelt, und dabei hatte sie die Hose an: ein kurzes warmes Gefühl von Sommer. Dann: nasse, kalte, juckende Pisse am ganzen Bein.
In der Ecke kann sie weiche Staubkissen und kleine harte Dinge fühlen, vielleicht Steine, tote Insekten oder etwas anderes, etwas Schlimmeres. Und noch einmal denkt sie an alle Ungeheuer, von denen sie weiß, dass es sie in der Dunkelheit gibt. Dass sie über ihr lauern, mit langen Insektenarmen, spitzen Zähnen und Klauen, so lang wie Kinderbeine. Die nur darauf warten, sie zu verschlingen, sowie sie nicht mehr aufpasst, nicht mehr an sie denkt.
An sie, die die Ungeheuer verjagt.
Mama.
Sie fragt sich, wann Mama kommt und sie vor dem Mann rettet, der vielleicht ein Ungeheuer ist. Und sie fragt sich, ob sie Mama erkennen wird, wenn sie kommt, ob ihr Gesicht verheilt ist, das viele Rote und Wunde, das aus ihr geströmt ist, haben sie das zurückgestopft? Papa sagt, dass sie das getan haben. Dass sie zur Beerdigung wieder schön sein wird. Dass sie dann aber in einem Karton liegen wird. Genau wie die Puppe, die er für sie gekauft hat. Nur wird Mamas Karton nicht durchsichtig sein. Sondern aus Holz, und er wird in der Erde vergraben. Und das findet sie unheimlich. Dass Mama ganz allein in diesem kleinen dunklen Karton liegen soll und nie wieder herauskommen darf.
Ihr tut vor Hunger der Magen weh. Die Rosinenbrötchen, die er ihr hingestellt hatte, waren hart und kalt, als kämen sie direkt aus der Tiefkühltruhe und hätten nicht eine Sekunde unter der Mikrowelle gelegen. Sie hat daran gesaugt und geknabbert, bis sie kleine mehlige Stücke lösen konnte, die nach Zimt schmeckten.
Sie denkt auch an Papa und an Henrik. Und an die Kita-Tanten.
Aber dennoch.
Wenn sie die Augen ganz fest zukneift, bis sie kleine glühende Punkte vor sich hat, dann sieht sie sie. Immer.
Mama.
Ab und zu nimmt sie auch ihren Duft wahr, diese lustige Mischung aus
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