Das Trauma
Henrik gesprochen, erzählt, wie sie sich kennengelernt haben und wie die Beziehung von intensiv und liebevoll zu destruktiv umschlug. Aber plötzlich geht mir auf, wie ungeheuer wenig ich wirklich über sie und ihr Leben weiß.
»Was hatten Sie vor Henrik für Männer?«
»Vor Henrik?«
Sie schaut mich überrascht an. Ihr Mund öffnet sich, wie um etwas zu sagen, findet aber keine Worte.
»Ja, Sie hatten doch wohl …?«
Sie lächelt strahlend, und abermals staune ich darüber, wie schön sie wird, wenn sie lacht.
»Ganz schön viele.«
Ich muss einfach zurücklachen. Plötzlich erinnert sie mich an Aina. Aber dann ist der Schmerz in ihrem Gesicht wieder da. »Ich konnte mir das Flirten noch nie so richtig verkneifen. Sie können vielleicht erklären, woran so etwas liegt. Und warum ich nicht darauf pfeifen kann. Denn wenn es so ist, wie Sie glauben, dann liegt vielleicht alles nur daran, dass ich mit Tobias … zu sehr geflirtet habe. Ich hätte deutlichere Ansagen machen müssen. Mich zurückziehen.«
Sie schaut aus dem Fenster, ihr Gesicht ist verschlossen. Der Schnee draußen hat sich in einen richtigen Sturm verwandelt. Wir fahren sehr langsam über die E 4. Vor uns schlängelt sich die Wagenschlange nach Süden, wie ein gigantischer Glühwurm kriecht sie im Schneckentempo weiter.
Ich schaue hinaus in den Schneesturm, wir hören nur Soulmusik und das Rauschen der Scheibenwischer. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass wir allein auf der Welt sind, Kattis und ich. Dass das einzig Wirkliche der kleine rote Golf ist, der durch den frischgefallenen Schnee schlingert. Markus kommt mir sehr weit weg vor. Aina und die Praxis ebenfalls. Sogar das Kind, das ich in mir trage, kommt mir vor wie ein ferner Traum. Der Schnee, der sich in meine Stiefel und unter meinen Kragen gestohlen hat, ist längst geschmolzen und hat an Hals und Knöcheln eine klebrige Haut zurückgelassen.
»Das wird noch eine Weile dauern«, murmelt sie, ohne mich anzusehen.
Als wir in Richtung Gnesta und Mölnbo abbiegen, fällt mir hinter uns ein Auto mit zerbrochenen Scheinwerfern auf. Es kommt mir bekannt vor, und für einen kurzen Moment überlege ich, ob ich es nicht schon vorhin gesehen habe, an der Unfallstelle bei Vårberg.
Und dann überlege ich, ob das hier eine schlechte Idee ist, ob das alles nur ein paranoides Produkt meiner viel zu lebhaften Phantasie ist. Ob Schwangerschaft und Hormone mir meine Urteilskraft geraubt haben, und ich möchte Kattis fast anschreien, sie solle anhalten. Nach Stockholm zurückfahren. Aber dann sehe ich wieder Tilde vor mir und denke an die seltsamen Fragen nach Müsli und Spielzeug.
»Bei der nächsten Kreuzung, rechts abbiegen.«
Jetzt können wir die Konturen der Häuser, an denen wir vorüberfahren, nicht mehr sehen, wir können die Silhouetten der riesigen Tannen, die uns von allen Seiten umstehen, nur noch ahnen. Es ist ganz dunkel, der Schnee wirbelt um uns herum, wirft das Licht der Scheinwerfer zurück. Nur die Musik ist zu hören, und hier und da die mechanischen Anweisungen des GPS . Irgendwo links ahne ich Häuser, und Laternen tauchen wie Irrlichter im Schneegestöber auf, signalisieren, dass wir auf dem Weg in ein dichter bebautes Gebiet sind.
»Gnesta«, murmelt Kattis. Wir kriechen durch das dunkle, verlassene Zentrum, wenn man das denn so nennen kann, denn es handelt sich nur um eine Handvoll Läden an einer Straßenkreuzung, Videoverleih, Dönerkiosk, Pizzeria. Ein einsames Schild schlägt vor der Dorfkneipe im Wind, teilt mit, dass ein großes Starkbier neununddreißig Kronen kostet. Der Ort kommt mir vor wie eine Geisterstadt.
Kattis biegt auf einen kleineren Weg ab, der in den Wald führt, fort vom Ort. Ich drehe mich um und schaue nach hinten, ahne die Scheinwerfer eines Wagens irgendwo hinter uns, habe den Eindruck, dass der eine schwächer leuchtet als der andere, aber das Wetter ist viel zu schlecht, um entscheiden zu können, ob es derselbe Wagen ist wie vorhin.
Kattis schaut aus zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe. Wir können fast nichts sehen, und die Welt um uns herum scheint aus wirbelndem Schnee zu bestehen. Der Boden wird holprig, und wir müssen langsamer fahren. Das Auto schaukelt hin und her, ich höre, wie etwas Hartes gegen die Unterseite schlägt, als wären wir auf einen Stein gefahren.
»Bald«, flüstert Kattis. »Bald.«
»Bei der nächsten Kreuzung nach links abbiegen.«
Dann gibt sie Gas, um einen kleinen Hang hochzufahren. Das
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