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Das Trauma

Das Trauma

Titel: Das Trauma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Grebe
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muss dauernd aufs Klo, und mir ist schlecht. An meinem Zustand gibt es nichts Romantisches oder Gesegnetes. Es kommt mir nur vor wie eine einzige lange Transportstrecke zu dem Kleinfamilienleben, dem ich in den vergangenen Jahren so verzweifelt auszuweichen versucht habe.
    Der Verkehr fließt nur langsam durch die Götgata. Die Autos haben die weiße Decke schon in einen braungrauen Brei verwandelt.
    Kattis schlängelt sich durch den Verkehr, wechselt die Fahrbahn und hupt ein stehengebliebenes Auto wütend an.
    »Ich hoffe wirklich, dass Sie sich irren. Aber wenn Sie recht haben, dann ist es meine Schuld. Alles.«
    Ihre Stimme klingt erstickt, und sie packt das Lenkrad so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß werden. Wir fahren über die Skanstullbrücke. Unter uns schläft das Eriksdalsbad unter der Schneedecke. Am Gullmarsplan scheint Kattis eine Sekunde lang zu zweifeln, dann biegt sie auf die E 4 ab.
    »Sie kennen ihn doch gut. Was glauben Sie, kann er es getan haben? Kann er Tilde entführt haben?«
    Kattis rutscht auf ihrem Sitz hin und her. Zieht den Reißverschluss ihrer dicken, mit Fell besetzten Daunenjacke hoch, als friere sie, obwohl es im Auto warm ist, und sieht mich mit Angst im Blick an.
    »Weiß nicht.«
    »Aber wenn Sie raten sollten?«
    Sie rutscht wieder hin und her, und ich kann ihr ansehen, wie unangenehm ihr diese Diskussion ist.
    »Vielleicht«, sagt sie endlich, »er könnte es vielleicht getan haben. Er ist so … naiv, unausgeglichen. Und wie ich schon gesagt habe, er ist früher schon gewalttätig gewesen. Ist in Schlägereien geraten und so. Aber ich glaube doch nicht …«
    Ich beuge mich vor und suche zwischen Papieren, Münzen und Kaugummi in meiner Tasche. Finde mein Mobiltelefon.
    »Ich rufe Markus an.«
    Sie nickt langsam. Scheint mir gar nicht zugehört zu haben.
    Markus’ Telefon ist ausgeschaltet, und der Anrufbeantworter springt an. Ich hinterlasse eine Nachricht, bitte um Rückruf.
    »Was machen wir jetzt?«, flüstere ich.
    »Wir fahren. Wenn Tilde da ist, kann es doch schrecklich eilig sein.«
    »Wo wohnt er?«
    »Draußen auf dem Land, bei Gnesta, das ist sechzig Kilometer südlich von Stockholm. Ich habe GPS .«
    Wir sitzen schweigend in dem kleinen Auto. In der Dunkelheit saust ein Vorort nach dem anderen an uns vorbei: Älvsjö, Fruängen, Sätra, Skärholmen. In allen Betonsiedlungen, an denen wir vorüberfahren: Menschen, wie wir, zusammengekrochen in Betten und auf Sofas, sie tollen im Schnee, schleppen Einkaufstüten. Einsame Seelen in der kompakten skandinavischen Winterdunkelheit. Alle mit ihren Träumen und ihren Problemen, ihren Hoffnungen und Enttäuschungen. Ich denke daran, und plötzlich ist sie einfach da: die Gewissheit, wer der eigentliche Täter ist.
    »Love fucks you up«, murmele ich.
    »Was?«
    Kattis sieht überrascht aus, mustert mich, als hätte ich gerade etwas gesagt, das mich zum Direkttransport in die Psychiatrie qualifiziert. Ich lache kurz, wie um meinem Kommentar die Spitze abzubrechen.
    »Es geht immer um Liebe«, sage ich, ohne das weiter zu erklären. Denke an Patrik, dort in meinem Besuchersessel, vernichtet, verschmäht, erniedrigt. Und Sven, nach dreißig Jahren von seiner Frau verlassen. Sein leerer Blick, sein scharfer alkoholischer Mundgeruch, die zitternden Hände. Und Aina, ihr gequälter, starrer Gesichtsausdruck, während sie erzählt, dass Carl-Johan verheiratet ist, Frau, Kinder und Haus in Mälarhöjden hat.
    Wenn es möglich wäre, ohne Liebe zu leben. Wenn wir uns selbst genug sein könnten, wären wir dann frei? Würde der Schmerz nachlassen, verschwinden? Wäre Hillevi dann bei einem Mann geblieben, der sie schlägt? Hätte Sirkka ihr ganzes Erwachsenenleben damit verbracht, sich um einen unzufriedenen Mann zu kümmern, der sie misshandelt? Hätte Sofies Mutter hingenommen, dass ihr neuer Mann ihre Tochter schlägt?
    Ich denke daran, was Vijay mir vor einigen Wochen gesagt hat, dass es nicht um Liebe geht, sondern um Macht. Und ich denke, dass er sich geirrt hat – oder dass seine Erklärung jedenfalls nicht ausreicht. Denn es ist doch die Liebe, die den Menschen Macht übereinander verleiht, die sie das Unakzeptable akzeptieren lässt, das Unerträgliche ertragen.
    Ich blinzele und sehe Tobias vor mir, die dunklen, fast schwarzen Haare, die tiefliegenden Augen. Die Münze, die über seine Fingerknöchel tanzt. Ich vermute, dass seine Liebe zu Kattis von der besessenen Art ist: verzehrend, intensiv, bittersüß. Sie ist

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