Das Trauma
Wangen, große Augen.
Ich sehe, dass sie weint, und möchte eine Hand nach ihr ausstrecken, sie trösten.
Sie nähert sich Henrik mit gesenktem Kopf. Sieht aus wie auf dem Weg zu ihrer eigenen Hinrichtung, und ich frage mich, ob sie das vorhat. Sich zu opfern.
Ich wünschte, ich könnte sie daran hindern, sie mitten in der Bewegung aufhalten, aber das wage ich nicht. Irgendwo in meinem tiefsten Inneren muss ich einsehen, dass ich mich nicht traue. Dass ich nicht bereit bin, mein Leben für einen anderen Menschen zu geben.
Ich will nur zu Hause in meinem Haus sein. Ich denke an das Leben in meinem Bauch. An ein Leben, das dort wächst und zu einem Menschen werden kann.
Ein Kind.
Ich denke an Markus. An seine warmen Hände. Seinen Körper. Sein Lachen. Markus und ein Kind. So kompliziert und jetzt plötzlich, so einfach.
»Nein!«
Hillevis Schrei bricht die Stille. Zerfetzt die schwere Luft. Sie springt auf und stellt sich zwischen Kattis und Henrik.
»Nein«, sagt sie noch einmal. »Lassen Sie sie in Ruhe. Gehen Sie. Gehen Sie endlich!«
Henrik schaut verwirrt Hillevi an, als würde er nicht begreifen, was gerade passiert. Hillevi bleibt stehen. Erwidert seinen Blick und schüttelt langsam den Kopf.
»Gehen Sie jetzt. Geben Sie mir Ihre Waffe. Wir werden Ihnen helfen. Wir werden dafür sorgen, dass Sie Hilfe bekommen.«
»Aber Sie verstehen das nicht.«
Henriks Stimme ist jetzt nur ein heiseres Flüstern, und ich ahne eine Resignation in seinem Tonfall. Sein Blick ist glasig, und er sieht Hillevi fast verängstigt an. Dann tritt er einen Schritt zurück und hebt die Waffe.
»Stehenbleiben, zum Teufel!« Wieder ist es da, dieses Gefühl, dass die Zeit aufgehört hat zu existieren. Dass wir alle Gefangene des Augenblicks sind, unfähig, diese Geschehnisse zu beeinflussen.
Hillevi tritt auf Henrik zu, und in mir wird alles kalt.
Henrik ist angetrunken, vielleicht verrückt. Er hat vermutlich Angst, hat paranoide Vorstellungen von Kattis. Wenn er sich von Hillevi bedroht fühlt, kann alles passieren. Sie dürfte nicht so nah an ihn herantreten. Sie müsste zurückweichen.
Kattis steht mit geschlossenen Augen da. Sofie ist einsam und verlassen, jetzt, da sie sich nicht mehr an Hillevi pressen kann. Malin und Sirkka sitzen stumm und starr da.
Plötzlich sehe ich Elin, vergessen in einer Zimmerecke. In der Hand hält sie ein Mobiltelefon. Das Display leuchtet schwach. Sie sieht mich an und nickt langsam, und ich begreife. Auf irgendeine Weise hat sie eine Mitteilung verschickt. Hilfe ist unterwegs. Rasch versteckt sie das Telefon irgendwo in den schwarzen Stoffbahnen.
Hillevi hebt die Hand, wie um zu signalisieren, dass sie ungefährlich ist. Nichts Böses im Schilde führt. Die kleine Hillevi gegen den aufgepumpten Riesen Henrik. Henrik, der still dasteht und sie überrascht anschaut, die glänzende Waffe in seiner Hand.
Dann.
Der Sekundenzeiger macht an der Wanduhr noch einen Sprung vorwärts. Irgendwo hupt ein Auto. Die Spülmaschine piepst, das Signal dafür, dass sie fertig ist. Jemand holt tief Luft. Hillevi geht einen Schritt nach vorn, es ist kein großer Schritt, keine hastige Bewegung, nur ein kleines, aber entschiedenes Vorrücken. Aber Henrik zuckt zusammen, und ein Schuss wird abgefeuert.
Hillevis schmaler, schwarzgekleideter Körper fällt rückwärts, stürzt über den Tisch, der im Kreis der Stühle steht, reißt Kuchenschüssel und Papiertaschentücher zu Boden, und aus den Augenwinkeln kann ich sehen, wie die Rosinenbrötchen, die auf dem braunen Teppich verstreut liegen, langsam das Blut absorbieren und rot werden, bis sie aussehen wie achtlos hingeworfene Wollknäuel.
Henrik schaut überrascht seine Hand an, als könnte er nicht verstehen, was passiert ist, nicht einsehen, was er soeben getan hat.
Dann: Schweigen.
Ich hatte ja nicht geahnt, wie laut ein Schuss in einem geschlossenen Raum ist.
Ohrenbetäubend.
Und wie die Stille danach das Geräusch auslöscht und mit Leere füllt.
Mit nichts füllt.
Später. Geräusche. Bewegungen. Menschen, die im Zimmer aus und ein laufen. Blaulicht, das in regelmäßigen Abständen über die Wand fegt, eine Spiegelung von den Krankenwagen und Einsatzbussen, die unten auf dem Platz stehen. Elin im Lamino-Sessel, unter einer Decke. Starrer Blick. Neben ihr auf den Knien eine freundliche Frau, die fragt, wie sie sich fühlt. Ob sie zur Behandlung ins Krankenhaus will.
Sirkka, Sofie und Malin, die in ihrer Ecke sitzen, sehen klein und
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