Das Trauma
Schatten.
»Wir können jetzt leider niemanden einlassen. Wir sind mitten in einer Sitzung. Es tut mir leid, aber du musst ihn bitten, später noch einmal zu kommen oder anzurufen.«
Elin nickt und will die Tür schließen. Danach passiert alles sehr schnell. Der Schatten löst sich von der Wand und stößt Elin brutal vor sich her ins Zimmer.
»Ihr müsst mich reinlassen. Ich muss das sagen dürfen. Ihr müsst mir zuhören! Mir zuhören!«
Der glattrasierte Schädel glänzt vom Regen, vielleicht ist es auch Schweiß, und er blinkt im Licht der Deckenlampe. Die riesige Daunenjacke trägt er auch diesmal. Ich erkenne Henrik sofort, den Mann, der vielleicht seine Freundin umgebracht hat. Den Mann, der auf dem Medborgarplatz aus der Dunkelheit aufgetaucht ist.
Er ragt in der Türöffnung auf, und ich sehe, dass er schwankt. Seine Augen haben einen fiebrigen Glanz, und ein schwacher, aber deutlicher Geruch nach Alkohol breitet sich im Raum aus. Elin sieht aus wie eine kleine Puppe, als sie da vor ihm auf den Knien liegt.
»Ihr müsst … mir … zuhören!«
Seine Stimme ist laut, sein Gesicht verzweifelt. Die Sonnenbräune vom vorigen Mal sieht grau und schmutzig aus. Bartstoppeln bedecken das verhärmte Gesicht.
»Es tut mir sehr leid, aber ich muss Sie bitten zu gehen.«
Ich gehe langsam auf Henrik zu, versuche, ruhig, aber entschieden auszusehen. Sicherheit auszustrahlen. In mir – nur schwarze Angst. Zitternde Finger, das Hämmern meines Herzens, hart, hart. Mindestens hundert Dezibel. Mein Magen, der sich zusammenkrampft. In den Ohren ein Geräusch, das zu einem lauten Kreischen wird, einem Schrei.
Henrik erwidert meinen Blick. Die hellblauen Augen sind vor Zorn rot unterlaufen.
Zorn, Trauer, Verzweiflung.
In seine Augen zu blicken ist, wie in einem Spektrum von düsteren Gefühlen zu ertrinken.
»Ja, ja, ja. Ich werde ja gehen, aber ihr müsst mir erst zuhören. Ihr müsst zuhören. Sie muss mir zuhören!«
Er zeigt auf Kattis, die auf ihrem Stuhl in sich zusammengekrochen ist. Sie hat die Arme um den Kopf geschlungen und scheint am ganzen Körper zu beben.
»Aber schau mich doch an. Schau mich an, Kattis. Jetzt reden wir. Du wolltest doch reden! Jetzt hast du deine Chance. Ich bin jetzt hier. Jetzt reden wir!«
Henrik stolpert, fällt fast über Elin, kann aber in letzter Sekunde meinen Stuhl packen.
»Verdammt«, murmelt er, vor allem an sich selbst gerichtet. Reckt sich, schwankt ein wenig.
Ich fange Ainas Blick auf. Sie macht ein wütendes Gesicht und steht jetzt ebenfalls auf.
»Es tut uns leid, aber wenn Sie jetzt nicht gehen, müssen wir die Polizei rufen.«
Ainas Stimme ist gebieterisch, entschieden. Als ob wir durch pure Gedankenübertragung Hilfe holen könnten. Denn einen Alarmknopf haben wir ja nicht. Der, den Vijay besorgen wollte, ist jedenfalls noch nicht geliefert worden oder vielleicht hat Vijay das Ganze auch vergessen.
»Ihr holt hier keinen verdammten Bullen, ihr hört mir zu! Und ich werde euch erzählen, wie es wirklich ist. Kapiert ihr!« Plötzlich schluchzt er auf, und ich sehe, wie aus seinen Augenwinkeln Tränen quellen. »Scheiße, Scheiße, verdammt, zum Teufel«, sagt er immer wieder, wie um seine Gefühlsduseligkeit zu verfluchen.
Ich schaue mich rasch im Zimmer um. Sirkka sitzt ganz steif da, starrt vor sich hin. Ihr runzliges Gesicht ist total verschlossen, keinerlei Ausdruck. Sofie weint jetzt, drückt sich an Hillevi, während Hillevi vorsichtig ihre Haare streichelt. Kattis, die noch immer das Gesicht in ihren Armen versteckt. Und Malin, die Henrik hasserfüllt anstarrt. Auf dem Boden sitzt Elin, zerzaust und zusammengekrochen zu einem Haufen aus schwarzen Kleidern und Ketten.
»Natürlich, klar werden wir Ihnen zuhören.« Aina geht langsam auf Henrik zu und spricht in einem ruhigen, fast alltäglichen Tonfall. Deutlich, wie zu einem Kind.
»Bleib mir vom Leib! Komm ja nicht näher«, knurrt er, hebt einen Arm. Ich sehe etwas Blankes in seiner Hand, Metall, ein Kolben? Eine Waffe?
»Aina, setz dich wieder! Lass Henrik reden. Henrik, Sie können jetzt reden. Erzählen Sie, was Sie zu sagen haben.«
Ich mache eine Handbewegung, damit Aina zurückweicht. Ich weiß nicht, ob sie die Waffe in Henriks Hand gesehen hat, aber mir ist klar, dass wir uns plötzlich in einer ganz anderen Situation befinden. Ein angetrunkener, aggressiver Frauenschläger, vielleicht sogar ein Mörder, steht vor uns, will abrechnen und hat eine Waffe mitgebracht. Das Einzige, was
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