Das Trauma
Bilder nicht deuten oder fehldeuten können. Ich höre die Wörter, Helenas ruhigen Tonfall. Ich höre, kann aber das, was sie sagt, nicht zu verständlichen Sätzen zusammenfügen.
»Und, wollen Sie vielleicht auch einmal schauen?« Helena berührt vorsichtig meine Schulter, und ich öffne die Augen. Der Schirm vor uns ist eingeschaltet und zeigt schwarze und weiße Felder. Plötzlich fügt das Weiße sich zu einem Körper zusammen. Unregelmäßige Schatten werden zu einem Rumpf, Armen und Beinen. Ein Köpfchen erscheint auf dem Bildschirm. Ich höre Helenas Wörter nicht mehr. Ich sehe nur das Kind, das sich bewegt, ungeduldig, nervös.
»Ich vermesse jetzt Kopf und Oberschenkel, um eine ungefähre Vorstellung vom Alter zu bekommen. Es sieht aus, als wären Sie in der achtzehnten Woche.«
Helena lächelt wieder und schaut mich fragend an. Mir geht auf, dass ich kein Wort gesagt habe, seit ich mich ihr vorgestellt habe.
»In der achtzehnten Woche?« Ich bin überrascht. Ist es möglich, dass ich schon so weit bin und es kaum bemerkt habe? Dass ich es nur Markus und Aina gesagt habe, nicht meinen Eltern, nicht meinen Schwestern? Dass ich so sicher war, dass auch diese Schwangerschaft in Schmerz und Leere enden würde, dass ich versucht habe, so zu tun, als gäbe es sie nicht?
»Die achtzehnte Woche.« Helena blickt auf ihren Bildschirm, gibt Ziffern ein und schaut dann wieder auf. »Das bedeutet also, dass Sie irgendwann um den 29. April nächstes Jahres herum Eltern werden.«
Ich schaue wieder auf den Bildschirm, sehe die Silhouette des Kindes. Sehe Markus an. Mein Herz schlägt noch immer, hart und rasch, aber die Angst ist verschwunden. Ist etwas anderem gewichen.
Hoffnung?
Markus sitzt im Sessel, den er vor den Fernseher gezogen hat. In der Hand die Fernbedienung, auf dem Bildschirm eine Art Kampf. Ich kann nur schwer begreifen, was an diesem Spiel so toll sein soll. An manchen Tagen kann ich es sogar unreif nennen, aber ich sehe ein, dass ich so viele Eigenheiten habe, die Markus akzeptieren und ertragen muss, dass auch er Auslauf für seine Interessen braucht.
Im Wohnzimmer lehnen einige leere Umzugskartons an der Wand, und damit weiß ich, dass Markus wieder Dinge aus seiner Wohnung geholt hat. Dass er sich hier einrichtet. Ich streife die hohen Stiefel ab, werfe die regennasse Jacke und den Schal über einen Stuhl in der kleinen Diele.
»Ich mache nur schnell diese Runde fertig …« Markus schießt weiter in tiefer Konzentration auf den virtuellen Feind auf der anderen Seite des Bildschirms.
»Sicher.« Ich hebe die Tüten mit den Lebensmitteln hoch und gehe in die Küche. Fange an, meine Einkäufe in Kühlschrank und Tiefkühltruhe einzuräumen. Ich staune darüber, wie alltäglich und selbstverständlich mir das vorkommt. Und dass mir dieses Gefühl sogar gefällt. Ich höre Markus im Wohnzimmer fluchen. Das Spiel ist zu Ende, und offenbar hat er verloren.
»Brauchst du Hilfe?«
Markus kommt in die Küche und gibt mir einen leichten Kuss auf die Wange. Die verlorene Schlacht scheint vergessen zu sein. Er streichelt meine Schulter.
Etwas zwischen uns hat sich geändert. Markus ist jetzt ruhiger, weniger streitsüchtig, vielleicht, weil er sich sicherer fühlt. Und wenn er ruhig ist, fühle ich mich weniger bedrängt. So einfach, aber doch so schwer. Ich schüttele den Kopf und stelle die restlichen Einkäufe in die Speisekammer. Markus lässt sich an den Küchentisch sinken. Er legt den Kopf in die Hände. Er sieht besorgt aus.
»Was weißt du eigentlich über Kinder? Über Kinderpsychologie, meine ich?« Er schaut mich an, und ich sehe, dass er unrasiert ist und seine Augen rot unterlaufen. Ich weiß, dass er in letzter Zeit mit dem Mordfall Susanne Olsson zu tun hat, aber vor allem geht es um zwei Vergewaltigungen, die im Freizeitgebiet Hellasgården passiert sind. Ich weiß, dass sie ungewöhnlich brutal waren und dass sie einen Serientäter befürchten, und ich weiß, dass die Ermittlung ihn belastet.
»Kinder? Machst du dir Sorgen um meine Fähigkeiten, ein Kind zu erziehen? Glaubst du, ich werde eine hoffnungslose Mutter?«
»Es geht nicht immer nur um dich, Liebling.« Markus’ Lächeln ist müde, und obwohl ich weiß, dass er scherzt, habe ich ein schlechtes Gewissen. »Du weißt, diese Kleine, Tilde. Sie wohnt jetzt bei ihrem Vater, fest. Normalerweise war sie jedes zweite Wochenende bei ihm und sonst bei Susanne. Jedenfalls behauptet der Vater, dass Tilde fast kein Wort mehr
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