Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen
denen man gehörte, in dem Land, dessen Bestandteil man war, für die Arbeit, die man ein für allemal, so glaubte man wenigstens, gewählt hatte – das alles war nun unmöglich. Aber in Afrika am Rande der Wüste aus einem Konzentrationslager davonzulaufen, in Casablanca zwischen wildfremden Menschen zu leben, sich ohne Arbeit über Wasser zu halten und überdies noch einen anderen Erdteil zur Kenntnis zu nehmen, seine Farben, seinen Duft und seinen Rhythmus allem zum Trotz sogar zu genießen – all das war plötzlich möglich. Wenigstens heute, zu dieser Stunde, in diesem Augenblick. Schon der nächste konnte anders sein.
Und so wanderte ich täglich durch die Mellah und die Medina, durch den jüdischen und den arabischen Teil der Stadt, die ich ohne die dazu erforderlichen Sprachkenntnisse kaum zu unterscheiden verstand. Nur die Frauen in den langen Gewändern konnte ich leicht auseinanderhalten. In der Medina gingen sie verschleiert, in der Mellah zeigten sie ihr Gesicht. Aber Araberinnen und Jüdinnen blickten mich mit den gleichen nachtschwarzen Augen an, webten mit gleich dunkelhäutigen Händen Stoffe wie aus Tausendundeiner Nacht, boten Gewürze in allen Farben zum Kauf an, pufften ihre unbändigen Kinder zurecht, drückten sie zärtlich an sich, zogen einen Esel oder ein Maultier hinter sichher, brieten auf offenem Feuer Fleisch, zerteilten rubinrote Granatäpfel (»Kauf, damit dein Blut frisch wird, Madame!«), schlürften aus kleinen Gläsern duftenden Tee, trugen bäuchige Tonkrüge auf dem Kopf, verjagten Fliegenschwärme von klebrigen Süßigkeiten, die sie zum Kauf anboten, kauften selbst Trinkwasser aus Tierhäuten, trippelten folgsam hinter ihren Männern, standen, wenn die Männer saßen, schwatzten miteinander, wehklagten aus irgendeinem Grund, lachten verhalten – und alles auf der Straße. Ich konnte es sehen, hören, riechen. So waren meine Tage heiß und hell und laut. Ich lebte. Tagsüber war das das wichtigste.
Tagsüber lernte ich es sogar, dem Ablauf der Stunden eine gewisse Ordnung aufzuzwingen oder einen solchen Ablauf wenigstens vorzutäuschen. Jeden Morgen kaufte ich an derselben Straßenecke von demselben kleinen Araberjungen die Zeitung. Die las ich dann an jedem Morgen in demselben Café, tunlichst an ein und demselben Tischchen auf der Terrasse, vom ersten bis zum letzten Wort, als ob die Kriegsberichte gerade in diesem jämmerlichen marokkanischen Blättchen und die Inserate auf seiner letzten Seite (». . . Vermögensanlage in Frankreich vorteilhaft transferierbar . . .«) von entscheidender Bedeutung für mich wären. Aber nicht darauf kam es an. Was ich brauchte, waren Stützen, um die kraftlosen Ranken meines gewaltsam entwurzelten, auf und ab schwankenden Daseins wenigstens für eine Weile festzuklammern. Ein Flüchtlingsdasein ist immer schwer. Ein Flüchtlingsdasein ohne die erforderlichen Personalausweise noch schwerer. Das Flüchtlingsdasein eines während des zweiten Weltkriegs nach Marokko verschlagenen Mädchens ohne Papiere, ohne Geld, ohne Wohnung, ohne . . . – ein Abenteuer ohnegleichen.Da half der berühmte Strohhalm nicht mehr, selbst wenn ihn mir jemand hingehalten hätte. Da half nur mehr recht viel Phantasie und fester Wille, ein bißchen Humor und fleißig geübter praktischer Lebenssinn. Und der Glaube ans Leben.
Jeden Freitag und Sonnabend, die einzigen Tage, da in den Bäckerläden der Stadt süße Kuchen verkauft werden durften, erstand ich ein paar von der billigsten Sorte und aß von früh bis abends nichts anderes. Mittags ging ich an jenen beiden Tagen zum Taxistand auf dem Hauptplatz, auf dem zwei bis drei Fiaker zu parken pflegten. Dort fütterte ich mit den süßen Krümeln vom Frühstück jedesmal ein anderes der mageren Pferde, die mit großen Strohhüten auf dem Kopf, durch die ihre Ohren durchgesteckt waren, ergeben in der Bruthitze standen. Auch das war eines der winzigen und dabei so wichtigen Ziele meiner Tage.
Während der Mittagszeit stattete ich täglich der Hauptpost einen Besuch ab. In dem kühlen, mit buntem Mosaik ausgelegten und allerhand Zierbrunnen versehenen modernen Gebäude fragte ich beim Schalter für Poste-Restante-Sendungen, ob etwas für mich angekommen sein. Jeden Tag dieselbe Frage, obwohl ich nur ganz selten eine bejahende Antwort erwarten konnte. Aber auch das war eine der verschiedenen Maßnahmen gegen die Uferlosigkeit meines unvorhergesehenen und unabsehbaren Aufenthalts in jener Stadt. Die Stunden zerrannen
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