Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen
Gewinn. Der Vogel draußen in der Pariser Straße, die erste Stimme des neuen Tages, probierte zaghaft einen kleinen Triller. Wo er wohl saß? Auf einem der zahllosen, schmalen Schornsteine dieser Stadt, auf einem spitzen Dachfirst oder am Ende auf einer der steinernen Fratzen an den Türmen von Notre-Dame? Aber nein. Wenn man so heiter erwacht, hockt man nicht auf Stein. Ein solches Gezwitscher braucht Luft und Licht. Wahrscheinlich schaukelte der kleine Vogel auf dem Zweig eines Ahornbaumes oder einer Platane oder zwischen den noch fest geschlossenen, aber doch schon unübersehbar vorhandenen Knospen einesKastanienbaums im Jardin du Luxembourg, in den Tuilerien.
Kalt war es hier.
Schon die sechste Nacht verbrachte ich auf dem Tisch in diesem Büro der Pariser Polizeipräfektur, entlassen und noch nicht wieder eingeliefert. Ein Stempel auf meinen Begleitpapieren sagte ja und ein anderer nein. Und weil sie sich nicht einigen konnten, die Stempel, die mein weiteres Schicksal bestimmen sollten, lag ich nachts auf diesem Tisch.
Tagsüber saß ich auf der Bank, die ringsum entlang der kahlen Wände lief. Jedesmal, wenn die Tür aufging und ein neuer Mensch hereingeschoben wurde, sah ich in seinen Augen dieselbe Frage: Was soll ich hier? Ich bin hier falsch. Wann läßt man mich wieder gehen?
Gestern hatte man in aller Herrgottsfrühe eine Frau gebracht, deren Kopf über und über mit Lockenwicklern bedeckt war. Sie war außer sich. »Nicht einmal zu Ende kämmen durfte ich mich zu Hause! In einem derartigen Aufzug mußte ich natürlich auf den Herrn Kommissar einen ungünstigen Eindruck machen. Glauben Sie, die haben mir wenigstens einen Spiegel geborgt, wie ich dringend, aber bitte sehr höflich, gebeten habe? Und da heißt es, daß alle Pariser galant sind! – Haben Sie nicht zufällig einen Spiegel in Ihrer Tasche, ma chère? Und können Sie mir einen Kamm borgen? Na, wunderbar! Und jetzt halten Sie mir das Spieglein vor, so ist es recht, noch ein klein wenig nach links. Vielen Dank, mon bijou, jetzt sehe ich endlich wieder wie ein Mensch aus.«
Der Frühvogel draußen im Pariser Morgen zirpte einen Gruß. Machte eine Pause. Zirpte ihn noch einmal. Dann kam von irgendwo die Antwort.
Mittags hatte ein blutjunger Polizist die Wache übernommen.Prüfend betrachtete er die vier Frauen, die sich zu jener Stunde in dem Raum befanden. Die blonde Lockenträgerin schien ihm nicht zuzusagen. Eine verweinte und eine andere, ziemlich schmutzige ältere Frau nahm er scheinbar überhaupt nicht zur Kenntnis. So blieb sein Blick an mir haften.
»Durst?« fragte er, anscheinend nur, um ins Gespräch zu kommen. »Soll ich Ihnen Wasser bringen?«
»Nein, danke.«
Nach diesem nicht gerade geglückten Versuch einer Konversation verschwand er im Dienstraum, kam aber schon nach einer Weile wieder zurück.
»Sie dort«, sagte er und wies mit der Hand auf mich, »kommen Sie mal her.«
Er war eine Amtsperson, ich war verhaftet. Ohne Eile erhob ich mich und ging auf das Bürschchen zu.
Als ich vor ihm stand, maß er mich mit einem langen, prüfenden Blick. Dann neigte er sich ein wenig zu mir hin und flüsterte: »Was ist los? Schlimm?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Wegen der Papiere?«
»Ja.«
»Ausländerin?«
»Ja.«
Er nickte zufrieden. »Heute ist Samstag«, bemerkte er und schob das runde Dienstkäppi ein wenig in den Nacken. Er war ein hübscher, blonder Junge. »Bist du am Sonntag frei?«
»Das will ich hoffen.«
»Fein«, er schien immer zufriedener zu sein. »Ich bin sonntags auch frei. Weißt du, wo die Metrostation Clichy ist?«
»Ja.«
»Schön. Um drei Uhr werde ich dort auf dich warten. Aber paß auf, in Zivil sehe ich noch besser aus.«
Ich nickte, verbiß ein Lachen und ging zu meinem Platz zurück.
Allein geblieben in der drückenden Leere des Wartens, dösten wir vier Frauen fast wortlos vor uns hin. Etwa eine Viertelstunde verging. Da tauchte der junge Polizist von neuem in der Tür auf, hatte aber diesmal eine strenge Amtsmiene aufgesetzt.
»Ihren Namen?« fragte er und pflanzte sich mit einem Notizblock in der Hand zuerst vor dem Blondkopf auf. Danach notierte er auch die Namen der beiden älteren Frauen. »Und Sie?« sagte er, als er schließlich vor mir stand. Keine Regung in seinem Gesicht verriet, daß ihn diese Verhaftete mehr interessierte als die anderen. »Aber langsam, bitte, ausländische Namen müssen wir ganz genau eintragen.«
»Jarmila . . .«, sagte ich, weil mir dieser Name
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