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Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Titel: Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerová
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Staccato eiliger Schritte. Ein Gruß hallt durch die noch leere Straße.
    Ein neuer Tag beginnt, und der Mensch in dem Zimmer mit dem fahlen Morgenlicht weiß nicht warum, ist aus seinem Geleise geworfen, forscht fieberhaft in seinem Gedächtnis nach dem Ursprung, dem Grund für die jäh eingetretene, aushöhlende Leere in seinem Innern, drückend wie heiße Steine in einem ausgetrockneten Flußbett. Ein Tropfen Blei im Herzen, ein Tropfen Blei im Kopf.
    Warum kann sich der erwachende Mensch nicht einreihen in die Geschäftigkeit des morgendlichen Hastens wie eh und je? Gestern noch hat er gestöhnt: Jetzt schon der Aufzug? Schon wieder die Müllabfuhr! Müssen die in der Küche unter uns . . . Nur noch ein Viertelstündchen!
    Heute liegt er mit weit geöffneten Augen und saugt die bekannten Geräusche förmlich auf, lauscht ihnen nach. Alle anderen Menschen müssen aufstehen. Alle anderen haben es eilig, auf sie wartet das Auf und Ab des gewohnten Alltags. Bei ihm hat sich etwas geändert. Bloß was es ist, das ihn so zusammenpreßt in dem anbrechenden Morgen? Sein Alltag schien doch so einförmig zu sein, die ständige Eile lästig. Und jetzt?
    Unter dem Fenstersims, an der glatten, zu dieser frühen Stunde noch farblosen Wand hockt der graue Wölfling und blickt mit leeren Augen ins Zimmer. Blickt hinüber zu dem traurigen Menschen, hebt schon die weichen Pfoten, um lautlos zu ihm zu schleichen, öffnet stumm das Maul.
    Wehre dich!
    Steh auf, Freund Mensch, wer auch immer du bist, zögere keinen weiteren Atemzug mehr. Stell dich auf deine Beine, geh auf den Lautlosen, den Blicklosen zu, zieh den Vorhang hoch, laß das Tageslicht hereinfluten, und der graue Wölfling, der dir aufzulauern vermeint und der es auf den Herz abgesehen hat – ein Tropfen Blei genügt! –, wird sich in Nichts auflösen, in sein eigenes Nichts.
    Blick auf die Dächer der Häuser oder blick hinunter in die Straße, betrachte die Bäume und den Himmel, horche auf die Geräusche des Tages, sie grüßen dich, du mußt es nur hören. Wenn ein Vogel fliegt, Rauch aus den Schornsteinen aufsteigt, Blätter sich wiegen und über der Stadt die Kranzadern aus Draht plötzlich in Schwingungen geraten, dann wisse, daß jede dieser Bewegungen auch dir gilt. Denn solange du atmest, lebst du, und es gibt keine Macht der Welt, die einen Lebenden zum Toten stempeln kann, wenn er es nicht will. Kein Wölfling bringt das zuwege.
    Schüttle den Schlaf ab, Bruder Mensch, nicht umsonst sagt man ihm nach, daß er mitunter bleischwer sein kann. Richte dich auf, und sieh dich um.
    Rings um dich beginnt ein neuer, unwiederholbarer Tag. Vielleicht gerade der, an dem alles möglich ist.

Glas und Porzellan
    Es war ein schwüler Augustmorgen. Die Menschen auf der Straße schienen schon zu dieser frühen Stunde von der Hitze niedergedrückt zu sein.
    Im Fenster eines der überfüllten Eisenbahnwagen auf dem sechsten Gleis des Prager Hauptbahnhofs schimmerte ein blasses Frauengesicht wie festgenagelt. Ein bewegungsloser weißer Fleck, darin zwei braune Nußschalen, in denen unruhige Flämmchen flackerten. Als der Schaffner zum zweiten Mal an diesem Fenster vorbeikam, trat er dicht an den Wagen heran, blickte hinein und sagte:
    »Herrschaften, könnte man für diese Dame nicht irgendwo noch einen Sitzplatz finden? Sie sehen doch, daß . . .«
    »Nein, nein. Danke. Ich stehe lieber, wirklich.«
    Die Stimme klang so erschreckt, daß der Schaffner nur erstaunt die Augenbrauen hochzog und mit den Achseln zuckte. Zerzauste Nerven, da kann man nichts machen.
    Ein Mann mit roter Kappe gab das Abfahrtszeichen. Hüben und drüben begann hastiges Winken. Der Zug setzte sich in Bewegung. An den Wagenfenstern zog die alltägliche Landschaft des Spätsommers vorbei. Abgeräumte Felder, Badende an einem Teichufer, Astern und Dahlien in den Eisenbahnergärtchen bei den Streckenübergängen.
    Das blasse Frauengesicht lehnte am Fensterrahmen. Zwei schlanke, unnatürlich weiße Hände umklammerten krampfhaft den Riemen einer großen Tasche, als wollten sie sich an ihm festhalten. Die Nägel an den dünnen Fingern waren kurz und gerade geschnitten. Um den Kopf lag dunkles, glattes Haar, da und dort von einem glitzernden Faden durchzogen und im Nacken mit einem blauen Bändchen zusammengehalten.
    Ein komisches Frauenzimmer, dachte der junge Mann in der grünen Sportjacke, der neben ihr stand. Wie aus Stein oder eher noch wie aus geblasenem Glas. Wenn man die berührt, klirrt es am Ende,

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