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Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Titel: Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerová
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schrecklichen Hunger. Gerade bin ich als erste von Amerika herübergeschwommen. Dana ist erst bei England, dort bei dem Baum, seht ihr? Dort ist die Grenze.«
    »Und hast du überhaupt einen Paß?« fragte Pavel.
    »Einen Paß? Du meinst, ob ich aufpasse? Aber natürlich passe ich auf, außerdem kann ich doch schwimmen.«
    Petruschka war mit dem Leben in der Kleinstadt durchaus zufrieden. Es gab hier eine Menge neuer Erlebnisse. Im Schulhort, wenn etwa beim Nachmittagsspaziergang auf der Wiese auf offenem Feuer Kartoffeln gebraten wurden, oder zu Hause auf dem Hof, wo sie an aufregenden Expeditionen über die Dächer der Holzschuppen teilnahm. Nur am Morgen machte ihr das Frühstück Schwierigkeiten, weil sie noch verschlafen war und Mutter immer so eilte. Vater ging bereits im Morgengrauen weg, lange vor ihnen. In der Wohnung war es ungemütlich kalt. Selbst im Winter lohnte es sich nicht, für das hastige Stündchen am Morgen in dem großen Ofen Feuer anzufachen.
    »Hurtig laufen, nicht verschnaufen«, munterten sie einander gegenseitig auf, wenn sie zusammen durch die kurze Gasse liefen, ehe sie an der Ecke der Hauptstraße voneinander Abschied nahmen. Petruschka überquerte noch unter Mutters wachsamem Blick die Fahrbahn und schlenderte dann auf der anderen Seite dem Schulhort zu. Meistens war sie dort der erste Schützlingder Putzfrau. Das brachte ihr eine gewisse Vorzugsstellung ein gegenüber den anderen Kindern, die »nicht so früh zur Arbeit gingen«.
    Die Stellung ihrer Mutter im Betrieb Glas und Porzellan hatte nichts Vorzugshaftes, sie war eher ein wenig sonderbar. Der Leiter der Kaderabteilung des Zweigbetriebs, erstaunlicherweise ein ehemaliger Schuhfabrikant, nannte sie gnädige Frau und benahm sich ihr gegenüber mit der familiären Nonchalance einer verbündeten Seele. Der einstige Gendarm Vojtech behandelte sie vom ersten Augenblick an mit kaum verhülltem Widerwillen. »Hergelaufene mag ich nicht«, erklärte er bald nach ihrem Antritt unüberhörbar in dem kleinen Büro. »Menschen ohne Wurzeln sind bei mir Menschen ohne Charakter.«
    Eine Zeitlang in Frankreich, dann wieder weiß Gott wo. Menschen wie Sie haben keine Wurzeln und keine Heimat. Kosmopoliten.
    Chef Hrabal benahm sich ihr gegenüber freundschaftlich, mit einer begreiflichen Portion ungeduldiger Neugier. Sie sprach fast nie über ihre Vergangenheit, die doch verflucht interessant sein mußte. Eines Tages kam er zu ihr in die Musterabteilung, kontrollierte eine Weile ungewohnt schweigsam die Preiskarten, plötzlich sagte er:
    »Ich habe vorhin im Rundfunk die Nachrichten gehört. In Moskau haben sie Wyschìnski von seiner Funktion abberufen.«
    »So?« sagte sie und stellte den geschliffenen Glasteller, den sie gerade abstaubte, vorsichtig auf seinen Platz zurück. Wyschìnski war in den dreißiger Jahren der mitleidlose Staatsanwalt der Moskauer Prozesse. Hrabal war gekommen, um ihr diese Neuigkeit mitzuteilen,das war offenkundig. Aber warum? Hat man ihn vielleicht beauftragt festzustellen, wie sie darauf reagieren wird? Bewacht er sie etwa?
    Genug, genug! Ich kann doch nicht den Rest meines Lebens in Angst und Verdächtigung verbringen. Als getretener, mißtrauischer Mensch.
    »Was soll ich machen, Pavel, damit mir nachts nicht mehr davon träumt und damit es mich auch tagsüber nicht mehr verschreckt? Es kommt vor, daß ich im Betrieb etwas sagen will, gar nichts Besonderes, und im letzten Augenblick traue ich mich nicht. Eigentlich bin ich immer noch hinter Gittern.«
    »Ich könnte dir Beruhigungspillen verschreiben lassen, werde es aber nicht tun. Die helfen schwachen Menschen, du kommst ohne sie wieder zu dir. Das weiß ich bestimmt, Géraldine. Auch als du dort warst, habe ich nicht daran gezweifelt.«
    Er hat nicht gezweifelt. Weil er nicht DORT war.
    Der Herbst war schwierig. Zu Hause schleppte sie Eimer mit Kohle aus dem Keller ins vierte Stockwerk, wenn Pavel im Krankenhaus zurückgehalten wurde, räumte ständig in der zu kleinen Wohnung auf, trug die Asche hinunter in den Hof, brach vor Müdigkeit beinahe zusammen, verschlief den halben Sonntag, und Bücher waren Requisiten aus einer anderen Welt. Und doch! Die Bäume unter dem alten Schloß loderten in allen Farben. Es genügte, das kleine Fenster in der Musterabteilung zu öffnen, und die Freude an der lebendigen, allgegenwärtigen Natur, an Luft und Sonne, Wind und Regen, half wirklich besser als ein Röhrchen mit Pillen. Sie beugte sich hinaus und atmete begierig den

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