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Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Titel: Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerová
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Mütze in beiden Händen, ein junger Mann neben ihm stieß ihn an, es werde abgestimmt, aber der Alte rückte bloß ein wenig von ihm ab, hob die Hand nicht, senkte den Kopf nur noch etwas tiefer.
    Sie sind allein, Sie einfältige Person, wie oft soll ich Ihnen das noch erklären! Mit uns gehen alle, und Sie sind einfach abgeschrieben. Allein. Kein Mensch wird Ihnen helfen.
    »Angenommen«, flüsterte Frau Kucerová erleichtert und stieß ihrerseits, allerdings überaus delikat, die Neue an. Was wußte diese Person überhaupt? Selbst von der normalen Versammlungspraxis schien sie keine Ahnung zu haben. Wird die Hand wohl bis Weihnachten in der Höhe halten.
    Der oberste Kaderchef hob das Kinn und blickte sichum. Im hinteren Drittel des Saales stak noch eine Hand in der Luft.
    »Du stimmst dagegen, Genossin?«
    »Nein, nein. Ich – ich möchte nur ums Wort bitten, falls wir schon beim Punkt Verschiedenes angelangt sind.«
    Stille breitete sich aus. So etwas hatte es hier noch nicht gegeben. Solche Extravaganzen pflegten bei den Gewerkschaftsversammlungen in den Bedarfsgegenständen für den Haushalt nicht vorzukommen.
    »Na dann bitte!« Der volltöndende Baß des Kaderchefs erdröhnte wie Donner im Vergleich zu der zögernden leisen Frauenstimme. »Ich wußte nicht . . . Aber bitte, bitte Genossin, du hast das Wort. Sag uns nur deinen Namen und die Arbeitsstätte.«
    »Starková. Glas und Porzellan.«
    Die Neue. Alle wandten sich um. Der Kaderchef preßte den Verschluß seines Patentstiftes so heftig, daß ihm sichtbar die Fingerknöchel hervortraten. Der Generaldirektor neigte sich ihm zu:
    »Das ist die aus Prag?«
    »Ja«, und laut: »Also bitte, Genossin, wir warten.« Und dann wieder leise: »Jetzt werden wir wenigstens sehen, was in ihr steckt.«
    Sie erhob sich. Die Menschen im Saal, die Buchhalter, Lagerverwalter, Verkäufer, Fahrer, Verkaufsstellenleiter, Packer, Direktoren, Sekretärinnen, Kaderchefs und Funktionäre verschwammen zu einem einzigen grauen Fleck, der sich auf sie zuwälzte, abebbte, von neuem auf sie zukam. Und es gab nichts, woran sie sich festhalten konnte.
    Ich kann auch noch etwas anderes sagen. Nein, darüber muß ich sprechen. Sie werden mich hinauswerfen, und wir haben doch auch ein Recht auf ein bißchenRuhe. Warum muß ich, warum gerade ich? – Wegen der Gitter in meinem Kopf.
    »Bei uns in der Abteilung Glas und Porzellan geht das Gerücht um, daß der alte Genosse Tichý gekündigt werden soll. Das hat beträchtliche Unruhe hervorgerufen im Hinblick auf seine schwere Lage, die wir alle kennen.«
    »Kennen?« Der Kaderchef schob das Kinn vor wie ein Stier vor dem Angriff. »Würden Sie uns gefälligst mitteilen, was Sie kennen?«
    Jetzt kann ich nicht mehr weiter. Er hat mich in die Ecke gedrängt. Ich werde sagen, daß ich nichts Näheres weiß.
    »Opa Tichý ist ein alter Mensch, und er muß eine vierköpfige Familie ernähren. Deshalb bitten wir Sie um Auskunft, ob an dem Gerücht etwas wahr ist.«
    Der Kaderchef sprang auf.
    »Ich bin nicht hergekommen, um über Kadermaßnahmen zu diskutieren, Frau Starková. Davon abgesehen, es ist mir auch nicht klar, warum Sie Ihre persönliche Ansicht in der Mehrzahl vortragen.«
    »Na vielleicht gerade auch in meinem Namen«, erklang vom anderen Ende des Saales die feste Stimme von Frau Mašková. »Auch wir werden zunächst nicht diskutieren, Genosse, erkläre uns erst einmal, warum ihr den Opa feuern wollt.«
    Und auf einmal war alles geradezu lächerlich einfach. Barborka, die Barborka Rezková, der die Gestapo den liebsten Menschen erschlagen hat, die gequält ihre von den Nazis ermordete Mutter und Schwestern überlebt und nach Kriegsende Pavel Starek geheiratet hat, ihren Gefährten aus den schlimmen Jahren, und die dann auch noch ratlos und verzweifelt um ihr eigenes Lebenkämpfen mußte, gegen die ungeheuerlichen Mißbildungen von allem, das bisher seinen Inhalt gebildet hatte, Barborka, die sie nach Hause geschickt hatten, ohne ihr dabei die drückende Last der konstruierten Beschuldigungen abzunehmen, die unter dieser Last nicht atmen konnte und die Welt nur durch das Schattenspiel von Gittern sah – atmete auf. Zum ersten Mal hatte sie wieder laut gesagt, was sie dachte. Wie früher.
    Der Kaderchef klopfte mit seinem Patentstift auf den Tisch. Er drohte ihr in düsteren Andeutungen und staunte über »solche Courage«. Sie müsse schließlich wissen, worauf sie, gerade sie, sich da einlasse, wenn sie leichthin eine Maßnahme

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