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Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Titel: Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerová
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feuchten Duft der Wiese ein. Wie lange hatte sie so etwas entbehren müssen!
    »Altweibersommer. Jetzt kommt bald der Winter«, erklang eine zitternde Stimme hinter ihr. Opa Tichý brachte auf seinem Wägelchen neue Muster aus dem Warenlager. Der gebrechliche Alte mit dem traurig herabhängenden weißen Schnurrbart und großen, oft vertränten Augen lief emsig und lautlos wie ein Eichhörnchen zwischen dem Lager und der Musterabteilung hin und her. Manchmal lächelte er ihr scheu zu, meistens legte er nur zwei Finger an das krumme Schild seiner Mütze: »Da sind wir wieder, junge Frau«, lud behutsam die neuen Muster ab und eilte wieder zurück ins Lager.
    Einmal erlitt er dort zwischen den hohen Regalen mit den Warenstapeln einen Ohnmachtsanfall.
    »Kann sich der Opa noch nicht in den Ruhestand versetzen lassen?« erkundigte sie sich damals. »Er ist doch alt und schrecklich schwach, der sollte lieber schon zu Hause bleiben.«
    Das könne er nicht, erklärten ihr die Frauen, sein Sohn sei im Gefängnis, er ernähre die Oma und zwei Enkelinnen, ihre Mutter habe sie verlassen. Der Sohn soll im Jahr 1948 Flugblätter einer subversiven Gruppe verteilt haben, seither sei er in Haft. Der Alte hat schon das siebte Kreuz auf dem Buckel, aber weitermachen muß er, weil er doch für die beiden Kinder sorgt.
    Weitermachen. Einer so und ein anderer wieder so. Früher hätte ich sofort etwas für den Alten unternommen. Aber jetzt? Nicht daran denken. Mich geht das alles ja schließlich auch nichts an. Habe selbst genug zu schleppen.
    Während der Mittagspause an jenem schönen Herbsttag sagte Frau Mašková, als sie zusammen vor dem Lagergebäude auf einer Kiste in der Sonne saßen:
    »Ich weiß nicht, ob man Ihnen schon mitgeteilt hat, daß morgen um vier Uhr eine Gewerkschaftsversammlung des ganzen Betriebs stattfindet. Irgendwelche neuen Lohnverordnungen und so. Dort sollte man etwas über den Opa sagen.«
    »Über Opa Tichý?«
    »Ja. Er soll nämlich entlassen werden, angeblich ist er für die Arbeit schon zu alt. Das stimmt schon, aber ich glaube, es ist vor allem wegen seines Sohnes. Am Montag war irgendeine Kommission in der Direktion. Heute morgen hat der Alte geweint, er weiß nicht, was er tun soll. Er braucht die Arbeit dringend, eine andere findet er doch nicht mehr. Und die Kinder sind noch klein.«
    Sie schwiegen. Der Gedanke an den klapprigen Alten mit den drückenden Sorgen schien mit einem Mal den strahlenden Himmel über ihnen verdüstert zu haben.
    »Sie werden bei der Versammlung etwas dazu sagen, Frau Mašková?«
    »Weiß ich noch nicht. Ich kann das nicht so richtig vor vielen Leuten. Ich könnte es nicht ordentlich erklären. Das will geschickt und verständlich gesagt sein, damit die Schreiberlinge aus der Administration aufwachen. Was wissen die schon in ihren Büros! Wenn es jemand gut vorbringen würde, würde ich mich selbstverständlich gleich anschließen. Ich werde auch zu schnell wütend, möchte dem Opa ungern noch mehr kaputt schmeißen.«
    Ich auch nicht. Ich bin die Letzte, die dazu etwas sagen könnte.
    Als sie nach Arbeitsschluß am Büro der Lagerevidenz vorbeiging, kam Frau Kucerová herausgelaufen.
    »Haben Sie schon gehört, Frau Starková? Die wollenangeblich Opa Tichý feuern. Das ist schrecklich, er hat doch nicht, wovon zu leben mit seiner Frau und den beiden Kindern. Also ich bin darüber ganz außer mir. Das sind jetzt Verhältnisse, was? Jesus Maria!«
    Sie können damit rechnen, daß wir ein Auge auf Sie haben werden. Sich anständig aufführen, das ist es, was wir jetzt von Ihnen erwarten.
    Sich nicht um den verzweifelten Opa und die beiden Kinder scheren – ist das anständig?
    Er hat einen Sohn, der wegen nachgewiesener staatsfeindlicher Tätigkeit im Gefängnis ist. Interessant, daß sein Vater gerade Ihnen so am Herzen liegt.
    Der Opa mit seiner Alten und den beiden kleinen Mädchen hat nichts verbrochen. Das weiß ich, und wenn ich schweige . . . Petruschka, Pavel. Pavel und Petruschka!
    Mit ihrem Mann sprach sie nicht darüber. Aber nachts stöhnte sie im Schlaf. Pavel weckte sie:
    »Hab keine Angst, Liebes, du bist zu Hause.«
    »Ich bin immer noch nicht zu Hause«, flüsterte sie. Er zog sie an sich.
    »Erinnerst du dich, wie häßlich das Hotelzimmer in Marseille war, in dem wir es fertigbrachten zu Hause zu sein? Und wie wir notfalls auch unter freiem Himmel zu Hause waren?«
    »Das war etwas anderes, Pavel. Aber jetzt, jetzt kann ich irgendwie nicht

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