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Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Titel: Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerová
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besonders unerträglich.
    »Und von den beiden Frauen, ich meine von dieser Wienerin und deiner Schwester . . .« Er sprach den Satz nicht zu Ende, holte von neuem die Zigarettenschachtelhervor, schaute an mir vorbei zur Theke, wo sich der Einheimische und die Wirtin angeregt unterhielten.
    »Da weiß ich fast nichts. Die Anni ist aus Frankreich nach Wien zurückgekehrt und wurde dort verhaftet. Viel später hat mir das jemand erzählt.«
    »Und deine Schwester?«
    Meine kleine Schwester? Ich sehe eine Schachtel vor mir, eine ziemlich große, ganz gewöhnliche Schachtel, deren Deckel ich lange nicht hochheben wollte. In der Schachtel waren Fotos. Meine kleine Schwester als Baby, wir beide zu Besuch bei der Großmama, meine Mutter als junges Mädchen mit einer dunklen Schleife im blonden Haar. Das letzte Foto meiner Mutter, einer verhärmten, häßlich gewordenen Frau, die älter aussah, als sie es je geworden ist. Meine kleine Schwester beim Skilaufen. Beim Würstebraten vor einem Zelt. Auf der Straße mit einer Freundin. Auf einem Dampfer. Einige Paßfotos. Meine kleine Schwester von hinten, einen Rucksack aufgeschnallt, und neben ihr, gleichfalls von hinten, ein junger Mann. Ein halbes Foto: meine kleine Schwester auf einer Wiese, mit einem Männerarm um ihre Schultern. Im Schwimmanzug, wie sie jemanden, der weggeschnitten ist, lachend bespritzt. Noch ein zerschnittenes Foto, noch eines und noch ein paar. Ein Reisepaß, der niemals benützt wurde. Ein Brief aus dem Gefängnis. Eine Postkarte aus dem Lager.
    Hinter dem Pulverturm, dort, wo unser »Weg der absoluten Verzweiflung« endete, war ich eines Abends in eine schmale Gasse eingebogen, zwei Treppen hochgestiegen, habe an einer Wohnungstür geschellt. Eine freundliche, alte Frau öffnete mir, führte mich in ein Wohnzimmer mit schweren, dunklen Möbeln, zog an einer Lade,die ging nicht gleich auf, bockte, knarrte ein wenig, gab schließlich nach. In der Lade war eine Schachtel, eine ziemlich große, ganz gewöhnliche Schachtel.
    »Da hast du«, sagte die alte Frau, und ihre Stimme klang unsicher und sehr dünn, »das habe ich für dich aufgehoben, damit du wenigstens etwas hast, falls du zurückkommst.«
    Ich hatte ihr ein Sträußchen Schneeglöckchen mitgebracht, das hielt ich immer noch in der Hand, und als sie mir die Schachtel reichte, da dachte ich zuerst, die Blumen werden welken. Dann konnte ich gar nichts anderes denken. Die Blumen werden welken. Immer wieder dasselbe.
    Später saßen wir an einem runden Tisch, auf dem eine Decke lag mit goldenen Fransen rundherum. Die alte Frau hatte die Schneeglöckchen inzwischen in eine kleine Vase gesteckt, vorläufig ohne Wasser, weil sie nicht hinausgehen wollte, um es zu holen. Weil sie mir erzählen wollte. Alles, was sie wußte. Von meiner Mutter in Theresienstadt und von meiner kleinen Schwester.
    »Eine Frau, die mit meiner Mutter befreundet war, hat mir manches erzählt. Sie hat meine kleine Schwester auch einmal im Gestapogefängnis besucht. Als Tante, sonst hätte sie keine Bewilligung bekommen. Meine Mutter war damals schon deportiert.«
    In diesem Augenblick flog die gläserne Küchentür plötzlich auf und der Hund, den wir knurren gehört hatten, raste heraus. Raste geradenwegs auf unseren Freund zu, der mit der Brieftasche in der Hand zur Theke geschritten war, um unsere Rechnung zu begleichen. Gelbgraue Borsten, wütendes Gekläff, ein zähnefletschendesBündel. Meine Hände wurden zu Blei, meine Füße wurden zu Blei. Der Mann neben mir fuhr hoch, warf seine Zigarette fort und war mit einem Sprung gleichfalls bei der Theke. Die Wirtin rief das Tier mit gellender Stimme zur Ordnung: »Nieder, Wotan, nieder!« Nur der Einheimische war sitzengeblieben. Er schüttelte sich vor Lachen.
    »Der hätte Sie ganz schön in den Hintern gebissen«, prustete er vergnügt, »wenn Sie ihm nicht so schnell den Fuß vors Maul gehalten hätten. Jaja, ein Wachhund ist eben scharf. Muß er ja auch sein.«
    Meine beiden Freunde kamen zu unserem Tisch zurück. Als mir der mit der Pfeife in den Mantel half, lächelte er mir beruhigend zu: »Ist aber ganz geblieben, der Hintern.«
    »Ein Wachhund muß scharf sein«, brummte der andere. »Eine verfluchte Tradition in dieser Gegend.«
    Wir traten hinaus auf die Landstraße.
    Und dann saßen wir wieder im Wagen, der Motor tuckerte regelmäßig, die beiden Männer vor mir unterhielten sie ruhig. Über den Hund, die Wirtin, den Mann mit der Zigarre, das ganze einsame Gasthaus

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