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Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Titel: Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerová
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Derartiges hatte sie bisher noch nie verspürt: unmittelbare, augenblickliche Macht über Leben und Tod. Das war entscheidend, das allein.
    Stand sie morgens, nach Seife und Sauberkeit riechend, dabei, wenn die Frauen gleich müden Vögeln in die Werkstätten, zum Straßenbau und in die Waldkolonnen zur Arbeit getrieben wurden, blickte niemand sie an. Trat sie in eine der Schlafbaracken, verstummte jedes Flüstergespräch.
    (». . . deine Freundin sieht schlecht aus.« – ». . . ich will raus! Laßt mich fort von hier!« Hat es das wirklich einmal gegeben?)
    Dennoch wußte die einstige Schrankhockerin immer etwas Interessantes zu berichten, wenn sie zu Ludwig Ramdohr, dem Mann vom Sicherheitsdienst, kam. Hatte sie einst nicht auch von den ahnungslosen französischen Bauersfrauen und Kindern aus den Dörfern an der Maginot-Linie allerhand erfahren? Und ihr Wort hatte Gewicht: Wessen Namen die Blockälteste von Nr. 10 auf eine Liste setzte, der war aus dem Leben gestrichen.
    Hat sie einmal auch Anna Peczenik auf ein solches Verzeichnis getippt? War meine kleine Schwester zu jung oder zu ruhig gewesen, um von ihr ertragen zu werden? Oder waren sie alle bloß Nummern, Fledermäuse, einundneunzigtausendneunhundertachtundneunzig Häftlinge plus zwei.
    »Was ich nicht verstehen kann«, sagte der Mann am Steuer mit einemmal, hob ein wenig die Stimme und drehte sich halb zu mir um, »das ist diese Schweizerin. Wenn sich in den besetzten Ländern Leute zu derartigen Niederträchtigkeiten hergegeben haben, trieb sie meistens die Angst. Wenn du nicht parierst, erschießen wir deine Frau, deinen Mann, die Eltern, die Kinder. Das kennen wir. Aber diese Person hätte doch in aller Gemütsruhe in ihrer neutralen Schweiz sitzen können. Wahrscheinlich stimmt, was du vorhin gesagt hast«, wandte er sich von neuem an den Mann neben sich.
    »Du weißt wohl gar nicht, worüber wir gesprochen haben?« fragte mich der. Ich schüttelte den Kopf. Da nickte er mir zu, und dann ließen mich die beiden wieder in Frieden. Ihre Stimmen und das regelmäßige Geräusch des Motors hüllten mich ein, ich schwebte oder schwamm, war weder da noch dort. Aus gestern wurde heute, aus heute gestern, die Grenzen der Zeit verwischten sich.
    In den Frühlingsmonaten des Jahres 1945 mischte sich ein neuer, aufrüttelnder Laut unter die in Ravensbrück gewohnten Geräusche. Jeden Tag klapperten Holzpantinen über die Landstraße, scharrten Tausende bloßer Füße, schrien zornige Aufseherinnen und mißhandelte Frau. Rasselten die Maschinen in den Werkstätten und tuteten die Frachter am Landungssteg des Schwanensees.Knarrte der Leichenwagen und jaulte der Wind im Schornstein des Krematoriums.
    Jetzt aber dröhnte der Horizont.
    Dröhnte und flackerte des Nachts. Und in den Augen der gefangenen Frauen und ihrer Bewacher ging etwas vor sich, entzündeten sich Funken und Flämmchen. Warme Funken der Hoffnung und eisige Flämmchen aus Angst und Haß.
    Und der Horizont dröhnte, flackerte und bebte. Das ganze Lager wurde wie von Fieber erfaßt.
    Sie kommen!
    Wir müssen ihnen zuvorkommen!
    Aushalten, hierbleiben!
    Evakuieren!
    Jeden Tag wurden Transporte zusammengestellt, Verzeichnisse angelegt. Aber manche Aufseherinnen und Blockältesten waren schon nicht mehr ganz bei der Sache. Es gab sogar einige, die das Unmögliche versuchten: ihren Gefangenen näherzukommen.
    Die Mory gehörte nicht zu ihnen, die blieb ruhig. Die Deutschen hatten sie in Frankreich gefangengenommen, die Deutschen hatten sie in diese Hölle geschickt. Sie war Schweizerin und keine Deutsche. Selbst wenn es von Osten dröhnte, selbst wenn die Russen als erste herkommen sollten, auch Engländer und Amerikaner standen bereits im Land. Wie heißt es in dem guten, alten Sprichwort? Eine Katze fällt immer auf ihre vier Pfoten! Das wäre doch gelacht, wenn es ihr nicht wieder gelingen sollte, rechtzeitig auf die Seite der Gewinner zu schlüpfen. Auf die Seite der neuen Macht.
    Die Anni war tot, und meine kleine Schwester war tot, und Sowjetsoldaten wurden die Befreier der Carmen Maria Mory, der Gefangenen von Ravensbrück, derBlockältesten von Nr. 10, des schwarzen Engels des Todes.
    Als sie ins Lager kamen, fanden sie auf dem Ärmel einer der kahlgeschorenen Gefangenen Nr. 103 027 als höchste Häftlingsnummer. Aber nur zwölftausend Frauen waren noch da.
    Wo waren die fehlenden?
    Die Mory wartete nicht, bis die Befreier die Antwort auf diese Frage fanden. Sie benützte den Trubel der letzten

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