Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen
Kriegstage, das Chaos auf den deutschen Straßen, verschwand aus Ravensbrück, kehrte dem Schwanensee den Rücken und zog westwärts. Solange sie die Sowjetarmee hinter und neben sich wußte, solange Panzer mit dem roten Stern an ihr vorbeirasselten und Flugzeuge mit demselben Hoheitszeichen über ihren Kopf flogen, gönnte sie sich keine Ruhe. Für diese Soldaten und Offiziere hatte sie keine passende Geschichte bereit und auch kein rettendes Angebot. Aber verloren gab sie sich deshalb nicht, zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht.
Die überlebenden Frauen in Ravensbrück bestatteten ihre letzten Toten, bemühten sich um die Rettung ihrer letzten Kranken und weinten. Jetzt erst weinten auch die Stärksten, wenn sie an die bevorstehende Heimkehr dachten. Die Mory erreichte inzwischen das von der Armee Großbritanniens besetzte Gebiet und stellte sich dem britischen Nachrichtendienst zur Verfügung. War sie nicht einst Korrespondentin des Manchester Guardian in Deutschland gewesen? Stand sie jetzt nicht als kaum befreite Gefangene des größten Frauenkonzentrationslagers des Dritten Reichs vor den Alliierten? In Häftlingskluft, aber nicht mit leeren Händen. Sie habe die Möglichkeit, bei der Auffindung von SS-Ärzten behilflichzu sein, erklärte sie, die in den Lagern Experimente an Gefangenen vorgenommen und sie auch sonst mißhandelt hatten. In welchen Lagern? Nun, in Ravensbrück und in Barth an der Ostsee, einem seiner Außenlager, wo übrigens im Auftrag der Firma Heinkel die »Wunderwaffen« V 1 und V 2 hergestellt wurden.
War es die letzte, nur beiläufig hingeworfene Bemerkung, die dazu führte, daß ihr Angebot angenommen wurde? Fest steht, daß aus der Schweizerin, die für den deutschen und für den französischen Nachrichtendienst gearbeitet hatte, die als Häftling ins KZ Ravensbrück gekommen und dort zur Mörderin ihrer Mitgefangenen geworden war, die vom Leiter der Kriminalabteilung Ludwig Ramdohr in Barth an der Ostsee eingesetzt wurde, um angeblich Korruptionsaffären unter den dortigen SS-Leuten aufzudecken – als Gefangene, wohlverstanden, als schlichte Blockälteste von Nr. 10 –, daß aus der persönlichen Bekannten von Goebbels und Heydrich auf dem Trümmerfeld Deutschland eine Mitarbeiterin des britischen Nachrichtendienstes wurde.
So und nicht anders hatte es kommen müssen. Jetzt war wieder alles in Ordnung. Carmen Maria Mory verkehrte in Offizierskasinos, duftete nach guter Seife, um ihre Schultern lag bald wieder ein Pelzmantel. Das aufregende Spiel mit der Macht hatte von neuem zivilisierte Formen angenommen.
Die Einheit der britischen Armee, in der sie nun diente, war in der Nähe von Hamburg stationiert. Hier lag schon der Salzgeruch des Meeres in der Luft, das Tor zur Welt stand abermals offen.
Am 5. Oktober 1945 wurde Carmen Maria Mory als Kriegsverbrecherin verhaftet.Die beiden Männer vor mir schwiegen schon eine geraume Weile. Jeder von uns hing seinen Gedanken nach.
Ich war müde. Jetzt hatte ich also das Bild gesehen. Hat sich damit etwas geändert? Hat sich die alte Wunde geschlossen, war nun etwas endgültig vorbei?
Meine kleine Schwester ist kaum mehr als zwanzig Jahre alt geworden. Und zwanzig Jahre sind eine kurze Zeit. Zu kurz für ein Leben, zu kurz, um es zu vergessen.
Ich rückte ein wenig nach vorne. Legte meine Hand auf die Männerschulter vor mir. »Glaubst du, daß die Mory, diese Schweizerin, wenn sie heute noch lebte, schon Ruhe geben würde? Ich meine sich und den anderen.«
»Wie alt wäre sie jetzt?«
»Ungefähr sechzig Jahre, vielleicht ein, zwei mehr.«
»Ich fürchte nicht«, meinte der Mann am Steuer. »Nach allem, was du über sie erzählt hast.«
»Sie hatte doch einen Prozeß, wenigstens stand das dort unter dem Foto vom Gericht«, sagte der andere Mann und rückte etwas zur Seite, damit ich auch meine zweite Hand auf die Rückenlehne der Sitze vor mir aufstützen konnte. »Ist sie hingerichtet worden, oder hat sie lebenslänglich bekommen? In den ersten Nachkriegsjahren ging man mit dieser Sorte von Verbrechern noch nicht so schonungsvoll um wie später.«
Ende 1946 in Hamburg. Hausstümpfe, Schutthalden. Eine zerbombte Stadt, ein von Bomben auseinandergefegter Welthafen. Keine Musik, kein Lichtgeflimmer in St. Pauli. Aber traurige Freudenmädchen in allen Straßen. »Weißt du, wo die Männer sind? Wo sind sie geblieben?« sang Marlene Dietrich in Amerika. DieMänner? Tote Matrosen und tote Hafenarbeiter. Tote Soldaten. Aber quicklebendige
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