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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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sich zwei Möglichkeiten. Entweder man stieg eine gewundene Treppe weiter hinauf, die hoch in das westliche Turmzimmer führte, oder man folgte dem Gang, von dem weitere Zimmer abgingen. Vom letzten Besuch hier erinnerte ich mich noch allzu deutlich an ihn, daher wusste ich auch, dass man zu einer weiteren gewundenen Treppe kam, die in das östliche Turmzimmer führte. Das Letzte, worauf ich jetzt Lust hatte, war es, diesen Weg einzuschlagen, deshalb stemmte ich die Schulter gegen die Tür des ersten Zimmers. Des Selbstmordzimmers. Antonia und Lily hatten die ganzen Jahre über in diesem Zimmer gewohnt, bis Simon ins Spiel kam und es ausschließlich Lilys Zimmer wurde. Es glich dem, was es einmal gewesen war: einem alten Schlafzimmer. Die wenigen, weißlackierten Möbel mit den gold gestrichenen Kanten waren vergilbt. Ich stutzte. Mitten im Raum stand ein Himmelbett ohne Himmel. Das Bett der Zwillinge, nahm ich an. Es handelte sich ganz eindeutig um ein Doppelbett und nicht um zwei einzelne Betten, und vielleicht war es wirklich völlig normal in den feineren Kreisen auf Südseeland, mit seiner Schwester im selben Bett zu schlafen. Auch wenn man erwachsen war. Doch in meiner Welt war das seltsam, das muss ich einräumen. Schnell stellte ich die Koffer ab, und irgendetwas ließ mich das Zimmer wieder verlassen und zurück in eine kleine Kammer links der Treppe gehen.
    Ja, ich kann genauso gut zugeben, dass mich die Neugierde antrieb. Denn obwohl die Kammer unscheinbar wirkte, zweifelte ich nicht daran, dass sie von Bedeutung war. Wie wenn man einen Menschen trifft und augenblicklich weiß, dass der Betreffende das eigene Leben verändern wird, das kennen Sie sicher. Ich trat ein. Die Möbel erinnerten mich im Grunde genommen an meine wenigen ausgedienten Habseligkeiten in der Pension Godthåb in Kopenhagen, die man auch mein Zuhause der letzten zehn Jahre nennen könnte, obwohl ich mich nie auch nur im Mindesten dort zu Hause gefühlt habe. Links von der Tür stand ein breites Bett, dessen Farbe abblätterte, rechts ein Schreibtisch mit einer einzigen quer verlaufenden Schublade, auf dem Boden lag ein abgenutzter, runder Teppich und im Kleiderschrank hinter der Tür baumelten fünf hochgeschlossene, langärmlige, dunkelgraue Kleider auf dicken Stahlbügeln. Ich nahm eins heraus und hielt es vor mich. Es war deutlich zu groß für mich, und das sagt nicht wenig, wenn ich ganz ehrlich sein soll. Der Stoff fühlte sich steif an, der Schnitt war unnötig eckig.
    Die einzigen Lichtquellen des Zimmers waren ein hohes Fenster, vor dem eine dicke Gardine hing, und eine Leselampe auf dem Schreibtisch. Nach kurzem Suchen fand ich den Schalter am Fuß derselben, und ein ruhiges, grünliches Licht fiel auf die abgenutzte Tischplatte. Jemand musste an diesem Tisch gesessen und gearbeitet haben, dachte ich. Ich zog den Stuhl vor und setzte mich. Jemand, der in irgendeiner Form Handarbeiten ausgeführt hatte, doch in der Schublade gab es weder Nadel noch Faden. De facto lagen dort nur ein altes Kartenspiel, ein Stapel grauer Briefbögen von grober Qualität mit den dazugehörigen Umschlägen und ein Rosenkranz mit Holzperlen und einem Metallkreuz am Ende. Ich sah mich um. Wie man es auch drehte und wendete, ich hatte das unangenehme Gefühl, jemanden zu stören, und meine Bewegungen waren dementsprechend. Es gelang mir, mich so leise hinzusetzen, dass nicht einmal ich selbst es hörte.
    »Ist hier jemand?«
    Ich war überrascht, dass ich tatsächlich eine Antwort erwartete, so real fühlte sich die Gegenwart eines Fremden an. Etwas pfiff.
    »Hallo? Ist da jemand?«
    Wieder pfiff etwas, und ich zerknüllte den Kleiderstoff in den Händen, bis mir klar wurde, dass es der Wind sein musste, der hier oben sehr viel deutlicher zu hören war. Langsam ließen meine Hände den Stoff los. Ich kann mich nicht erinnern, ob mir bereits zu diesem Zeitpunkt klar war, dass ich mich in Fräulein Lauritsens Zimmer befand, doch ich glaube es fast. Ihre besonderen Fähigkeiten . Bis jetzt hatte ich eigentlich nicht weiter über diese nachgedacht, vielleicht weil ich den Kopf mit Misshelligkeiten voll hatte, die mir sehr viel schlimmer erschienen. Doch als ich dort saß, verspürte ich den starken Wunsch, zumindest den Mut der alten Verwalterin zu haben. Denn mutig musste sie gewesen sein. Jeden Abend, solange sich Nella zurückerinnern konnte, hatte sich Fräulein Lauritsen in das Turmzimmer hinaufbegeben. Ich konnte sie ganz deutlich dort oben hin und

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