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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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noch übrig war, während alle anderen tot waren. Nellas Mantel hinterließ kleine Pfützen auf dem Boden. Sie sollte ihn ausziehen, doch ihre Finger kamen nur bis zur Tischkante, wie von selbst glitten sie über das Holz.
    Soweit Nella wusste, waren bis auf sie selbst und irgendeinen Verleger alle Menschen in Antonias Leben längst tot. Doch seit Nella vor zehn Jahren Liljenholm verlassen hatte, ohne sich zu verabschieden, hatte Antonia nichts von sich hören lassen, sodass Nella sich nicht wirklich sicher sein konnte. Theoretisch gesehen konnte Antonia viele Freunde haben, die der verlorenen Tochter in Kopenhagen rücksichtsvolle Telegramme schickten. Damals, als Lily noch lebte, bevor sie den Verstand verlor, und Simon verschwand, hatte Antonia doch auch eine Reihe von Freunden und Gästen gehabt und mit Autoren und anderen Persönlichkeiten aus dem Kulturbereich korrespondiert. Antonia hatte über die Jahre hinweg immer mal wieder einige Namen genannt, doch keiner hatte Nella etwas gesagt. Wie dem auch war, jedenfalls erschien es ihr äußerst unwahrscheinlich, dass Antonia bei der Produktivität, die sie an den Tag legte, Zeit für Freunde haben sollte. Die letzten zehn Jahre hatte sie mit der Präzision eines Uhrwerks pro Jahr ein Buch abgeliefert. Nella wusste das, weil sie hin und wieder an einem Buchladen vorbeiging und die letzten Bücher in der Reihe unter L als Liljenholm ausmachen konnte. Sie nahm sie nie aus dem Regal, fasste sie absichtlich nicht an, sondern stellte lediglich fest, dass es sie gab. Das war schon fast zu einem Ritual geworden, genau wie die Kälteschauer, die sie jetzt überfielen.
    Die Worte des Telegramms grinsten sie aus unregelmäßigen Reihen an. Sie stand auf und machte überall Licht. Die Ecken leuchteten ihr entgegen, die Risse in der Decke streckten sich zu ihrer vollen Länge. Bis jetzt hatte sie es für das Beste gehalten, genau zu wissen, wo sie Antonia verorten konnte. Nämlich vor der Schreibmaschine, wo sie immer gewesen war. Wenn die Kälteschauer sich nach ein paar Tagen verzogen, gab diese Gewissheit ihr gewöhnlich für das nächste Jahr Ruhe, bis ihr Weg sie wieder an der Buchhandlung vorbeiführte. Sie wanderte auf und ab, von der Küche ins Wohnzimmer, schälte sich aus dem Mantel, strich das nasse Haar zurück. Das hier war etwas völlig anderes, und daran würde auch ein Gang in die Buchhandlung kaum etwas ändern.
    Der Mieter unten klopfte gegen die Decke. Nella musste aufgestampft haben, ohne sich dessen bewusst zu sein, und sie ließ sich mitten auf das Sofa fallen, wo der Stoff schon ganz zerschlissen war. Sie konnte es sich genauso gut eingestehen. Sie wusste nicht mehr, wo sie Antonia mittlerweile verorten konnte, und schon gar nicht, ob es stimmte, dass Antonia sie sehen wollte.
    Ihre Beine weigerten sich stillzustehen. Sie gingen mit Schritten über den Boden, denen es gleichgültig war, ob der Nachbar Löcher in die Decke klopfte oder nicht. Ihr Koffer öffnete sich wie von selbst. Ein paar Kleider hüpften von ihren Bügeln, falteten sich zusammen und legten sich hinein. Zu wenige Kleider, dachte sie, aber sie waren wohl optimistischer, was die Dauer ihres Besuchs anging, als sie. Das traf auch auf das halbe Stück Seife und die Flasche mit dem Rest Parfüm zu, die sich freiwillig auf das Ganze warfen. Sie zählte ihr Geld, und es reichte für die Zugfahrt, und weiter auch nicht. Führte sich die guten Gründe vor Augen loszufahren, und sie ließen sich an einer Hand abzählen. An einem Finger. Die Angst war das Einzige, das sie antrieb, und während sie einen Bekannten bat, ihren Musikunterricht zu übernehmen, und einen anderen, ihre Topfpflanzen zu gießen, spürte sie sie wachsen. Gegen Mitternacht war sie so groß, dass sie in ihr zersprang. Das, was noch von ihr übrig war, saß auf ihrem Bett und zitterte.

Der Albtraum in der Bibliothek
    Soweit Nella zurückdenken konnte, war sie auf Liljenholm jede Nacht erwürgt worden. In ihren Träumen, nicht in der Wirklichkeit, versuchte sie sich zu sagen, doch ihr Herz weigerte sich zur Ruhe zu kommen. Es zog in ihrer Brust, sodass sie aufstehen und im Zimmer umhergehen musste. Vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer und in die Küche, bis vor den schrägen Fenstern die Sonne aufging und der Traum langsam verblasste. Die dunklen Erbstücke, die langen Gardinen. Im Traum war sie so klein, dass alles um sie herum sie überragte, und an den Füßen trug sie Lackschuhe mit harten Sohlen. Sie lief die Treppe von

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