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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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in der Sonne gehangen, und wären, kaum dass man sich einmal umgedreht hatte, ganz grau geworden. Selbst die Luft hatte sich plötzlich ganz anders angefühlt. Wie Wasser in ihren Lungen. Sie hatte sich noch einmal gedreht, sich noch ein wenig mehr gedreht, und der Staub hatte sie mit sich zum Fenster geführt. Das Glas hatte ihre Stirn gekühlt. Bestimmt entsprach es der Wahrheit, dass Lily genau wie sie gewesen war. Lily war schließlich trotz allem Antonias untalentierte Zwillingsschwester. Alles Graue war plötzlich weiß geworden. Ob Lily das auch so erlebt hatte? Und das Weiß, das warm seufzte, öffnete sich, nur ein wenig. Einen warmen, einladenden Spalt.
    Die Frau auf dem Sitz gegenüber stand auf und hievte ihren Koffer aus dem Gepäcknetz.
    »Passen Sie gut auf sich auf.«
    Nella hatte immer eine Schwäche für ein angedeutetes Lächeln wie ihres gehabt.
    »Gleichfalls … oh … warten Sie! Ihr Taschentuch!«
    Doch die Frau war bereits verschwunden. An der nächsten Station musste Nella selbst aussteigen. Sie spürte den Schweiß ihren Rücken hinunterlaufen. Auf vieles hatte sie sich mit der Zeit vorbereitet, doch nicht darauf, hierher zurückzukommen. Die winterlich bleiche Landschaft, die erbärmlichen Städte erinnerten sie an das letzte Mal, als sie hier gewesen war. Im Selbstmordzimmer mit einem einzigen klaren Gedanken im Kopf.
    Die Schuhe hatten nicht von den Füßen gewollt an diesem Tag, und sie hatte einen hohen, scharfen Laut ausgestoßen. Sie hatte gelauscht, nur einen Augenblick. Sich selbst gelauscht, ihrer Stimme, die bereits wie eine andere klang. Es war verblüffend leicht gewesen, die Fenster zu öffnen, auf die Fensterbank zu klettern und nicht an die zerzausten Korkenzieherlocken zu denken. Sie würde eine hässliche Leiche abgeben, aber egal. Zerkratzt von den roten und gelben Rosen, die dort unten blühten, doch das war nur ein Detail. Wenn man von den Dornen absah, waren die Rosenblätter schließlich ganz weich, und Nellas Herz schlug ruhig. Ruhig und dumpf, noch zehnmal, und dann war es Zeit, den Fensterrahmen loszulassen.
    Doch in dem Moment, als sie bei zehn angekommen war, hatte ein hoher, heiserer Laut ihre Hände an dem Rahmen festfrieren lassen, und sie war auf den Zimmerboden heruntergefallen. Der heisere Laut war erneut erklungen. Er schien oben aus dem Turmzimmer zu kommen, doch sie war sich nicht sicher gewesen. Langsam waren die Farben zurückgekehrt.
    »Laurits? Bist du das?«
    In ihrer Stimme hatte eine winzig kleine, törichte Hoffnung mitgeschwungen, und plötzlich hatte sie jemanden auf der Treppe gehört.
    »Laurits?«
    Doch es war nicht Laurits gewesen, und sie hatte es gewusst, noch bevor sie Antonia in der Tür stehen sah. Einen Strich im Gesicht anstelle eines Mundes. Wenn Nella sich nicht sehr irrte, sah sie Enttäuschung in den Augen ihrer Mutter. Sie wanderten ohne innezuhalten durch das Zimmer, und Nella war sich in diesem Moment wie ein Stück ausgemustertes Inventar vorgekommen. Oder schlimmer noch: wie ein Stück Inventar, das zu wertlos war, überhaupt ausgemustert zu werden. Antonia war sofort wieder verschwunden. Nella hatte ihre Schritte den Gang hinunter zu der Treppe laufen hören, die in den Turm hinaufführte, eine Tür hatte dort oben geknallt, und irgendetwas war umgekippt oder auf den Boden geworfen worden. Danach war es still. Das Einzige, das Nella mit Sicherheit gewusst hatte, war, dass Liljenholm sie gerade vor dem Tod bewahrt hatte, doch sie hatte keine Dankbarkeit empfinden können. Damals nicht.
    Wie von selbst hatten sie ihre Beine in die Kammer neben dem Selbstmordzimmer geführt. Früher war es einmal Horaces und Claras altes Schlafzimmer gewesen, doch die letzten achtzehn Jahre war es alleine Nellas Zimmer gewesen. Sie hatte einen alten rotbraunen Koffer geöffnet, kurz gezögert, doch schon bald hatte sie ihn über ihren wenigen Eigentümern geschlossen. Weniger als sie eigentlich besaß. Drei braune Kleider und eine Flasche Eau de Toilette, Kamm und Bürste, Unterwäsche für eine Woche, das gelbe und das grüne Notenheft, ein wenig Erspartes und ein paar Perlenketten, die sie verkaufen konnte, falls es nötig werden sollte, hatte sie gedacht.
    Niemand hatte versucht, sie aufzuhalten, als sie den Koffer die Treppe hinunter und weiter durch die Halle geschleppt hatte, wo ihr selbst Antonias Mäntel den Rücken zugekehrt hatten. Sie hatte sich den braunen unter ihnen herausgesucht, den langen mit dem Gürtel in der Taille. Hatte

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